Blutrotes Wasser
Lázlo gerettet hatte – und schnappte sich das Portemonnaie. Sie zog einen mattgrünen 1000-Forint-Schein heraus und drückte ihn der Blumenfrau in die Hand.
»Sehr großzügig, meine Tochter.« In einer blitzschnellen Bewegung verstaute Éva das Geld irgendwo in den Tiefen ihres Rockes. »Warum bist du traurig?«, fragte sie dann, nachdem sie lange und ernst Lenas Gesicht gemustert hatte.
»Sieht man das so deutlich?«, fragte Lena.
Éva lächelte nur.
»Nun«, murmelte Lena hilflos und zögerte. Aber in Budapest schien es normal zu sein, wenn sich wildfremde Menschen um einen kümmerten. Erst Imre, der Geiger, dann Lázlo und schließlich diese merkwürdige Blumenfrau. »Ich habe«, erklärte sie, »plötzlich Angst bei etwas, was ich sonst über alles liebte. Wegen eines Unfalls, verstehen Sie?«
»Éva versteht«, sagte Éva. »Dann solltest du dir als Erstes überlegen, ob du dieses Etwas wirklich geliebt hast.«
»Was? Natürlich!«
»Natürlich?« Éva lächelte und in ihren Augen blitzte es wissend auf. »Denk darüber nach, Lena. Wir sehen uns bestimmt wieder.«
Ratlos blickte Lena auf die Blume, die immer noch in der Hand der alten Frau auf sie wartete.
»Vergiss die Sonne nach dem Regen nicht«, sagte Éva und drückte ihr die Pflanze in die Hand.
19.48 Uhr, Óbuda, Wohnsiedlung Faluház
Lázlo kaute, aber er schmeckte nichts. Seine Mutter hatte sich Mühe gegeben und ihm sein Lieblingsessen gekocht, einen ungarischen Kartoffelauflauf mit Eiern und Paprikasalami. »Schmeckt gut«, sagte er, obwohl er genauso gut auf einem Blatt Papier hätte kauen können. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm: Er fühlte sich müde und abgestumpft; er verlor sich in Gedanken und kam nicht zurück.
»Dieser Arzt hat vorhin angerufen«, erklärte seine Mutter. »Der Psychologe, Doktor Anday.«
»Soll sich um seinen eigenen Kram kümmern«, murmelte Lázlo.
»Ich fand ihn eigentlich nett. Er schien sich Sorgen um dich zu machen.«
»Braucht er nicht. Auch du nicht, Mama. Ich bin stark und frei.« Er merkte selbst, wie bescheuert sich das anhörte. Aber sie ging nicht darauf ein und stocherte schweigend in ihrer Portion Kartoffelauflauf herum.
»Was guckst du so?«, herrschte Lázlo sie an. Er wollte nicht laut werden, wollte sie nicht noch mehr verstören. Aber seine Gefühle brachen in den letzten Wochen einfach vulkanschnell aus ihm heraus: Er konnte sie nicht kontrollieren. Konnte sich nicht kontrollieren – und verspürte deshalb ebenso viel Freude wie Angst.
»Hat Papa eigentlich«, lenkte er ab, »manchmal von einem Holló gesprochen?«
»Ein Rabe? Nein. Wieso?«
»Nicht so wichtig. Kennst du eigentlich noch ein paar alte Freunde von ihm?«
»Natürlich. Aber Lázlo, es ist nicht gut, sich in der Vergangenheit zu suhlen wie ein Schwein im Schlamm.«
»Toller Vergleich.«
»Entschuldige. Ich meine …«
»Jaja. Schon gut. Ich hau gleich noch mal ab.«
Schweigend leerten sie ihre Teller. Lázlos Kopf war voll Watte, aber sein Bauch füllte sich mit Kartoffeln, Ei und Salami. Seine Welt, das spürte er vage, hatte sich vollständig gewandelt.
Warum fühlte er sich dann nicht glücklich?
20.31 Uhr, Old Man’s Club, Akácfa utca
Lena schwitzte. Sie hatte nichts gegen heiße Sommer, aber was sie in Budapest erlebte, brachte sie doch an ihre Grenzen: Sie trank Wasser wie ein Feuerwehrschlauch beim Löscheinsatz und war immer noch durstig. Dieser Klub hier wirkte auf sie wie ein Irish Pub: Kellergewölbe, wuchtige Theke, Bierfässer als Tische und Schwarzbier auf den Fässern. Der Laden war voll, was die Temperatur nicht gerade senkte. Man lachte, trank und hörte zu. Denn die Musik war wirklich nicht schlecht. Auch wenn die drei Mann auf der kleinen Bühne wenig hermachten – Lena hätte sie als Rentner-Band abqualifiziert –, so hatten sie doch den Blues im Blut. Dieser dickbäuchige Imre Rutschek spielte die Geige, als hätte er den Jazz erfunden; sein Kollege am Klavier schlug so sicher und lässig auf die Tasten wie Sam in »Casablanca«, und der Mann am Bass zupfte so wild an den Saiten, dass Lena um seine Fingerkuppen bangte.
»Die sind gut«, sagte Lázlo und stellte zwei frische Krüge Guinness auf ihr Fass. Er schien seinen Ausraster heute Mittag vergessen zu haben und lächelte gut gelaunt.
»Stimmt.« Lena packte das Bier und wollte mit ihm anstoßen – doch Lázlo fuhr zurück.
»Nein, nein!«, stieß er aus. »In Ungarn stößt man mit Bier nicht an. Und ein Tourist sollte das
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