Blutrotes Wasser
Taucherbrille und pustete den Schnorchel aus. »Wenn ich es nicht schaffe, macht er sich nur noch mehr Sorgen. Der schickt mich glatt nach Hause.«
Ein Schmetterlingshauch von Lächeln flog über Sándors Gesicht, verschwand aber gleich wieder. »Verstehe.« Aber er klang immer noch nicht überzeugt.
»Ich … ich hatte echte Panik da unten, Sándor.« Lena kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Und wenn ich erst ein paar Tage warte, dann … dann bläst sich meine Angst auf wie ein Luftballon.«
»Verstehe«, wiederholte Sándor. »Und du willst nicht platzen. Aber jetzt hast du auch Angst, oder?«
»Die ist so groß wie eure Burg da oben«, murmelte Lena. »Hilfst du mir?«
Einen Augenblick zögerte der Taucher, dann nickte er. »Also los. Entweder gleich oder jetzt.« Er schulterte die Pressluftflasche und ließ den Gurtverschluss einrasten. Lena stülpte die Maske über, hob ihre Flossen auf und machte ein paar Schritte zum Eingangsbecken. »Nur ein paar Meter tief«, murmelte sie. »Nur ein paar Minuten.«
»Gut«, sagte Sándor.
Lena stieg die Stufen ins Wasser hinab, das sich Schritt für Schritt zu ihr hinaufschob. Erst über die Knöchel, dann bis zu den Knien. Sie hockte sich hin und zog sich die Flossen über, rückte ihre Maske zurecht, zog an ihrem Lungenautomaten und griff nach der zweiten Stufe. Sie schob sich das Ding in den Mund, biss auf die Gumminoppen. Atmete. Ha-Hu. Ha-Hu. Sie ließ sich in das warme Wasser gleiten, spürte die beiden Götter unter sich: Stille und Dunkelheit. Ha-Hu, Ha-Hu. Sie atmete zu schnell. Zwang sich zur Ruhe, aber die wollte nicht kommen. Ein Hündchen war sie, das nicht folgen wollte – Frauchen Lena war der Ruhe egal. Ha-Hu. Lena schwamm an der Oberfläche, ihre Tarierweste hielt sie oben. Sie steckte den Kopf hinein und blickte hinab: Blau und tief. Ein dunkler Abgrund, den ihre Taschenlampe nur ankratzen würde. Ich fresse dich, sagte der Abgrund. Ha-Hu, Ha-Hu, sagte Lena schnell, immer schneller werdend. Die Luft aus der Flasche schmeckte schal. Vielleicht war sie leer? Bestimmt. Ha-Hu. Wieder die Bilder in ihrem Kopf: Sie steckte im Felsloch. Keine Luft. Die Panik prügelte aus dem Nichts heraus auf sie ein. KEINE LUFT.
Um sich schlagend riss Lena ihren Kopf hoch, streifte die Tauchermaske ab und spuckte den Automaten aus. Atmete die schwüle, abgasschwangere Luft. Spürte die Tränen auf ihren Wangen.
»Ich schaff es nicht«, sagte sie leise.
12
Immer noch Montag, 8. August
19.23 Uhr, Váci utca
Lena peitschte durch die Fußgängerzone. Ihre Angst hatte sich schon längst in Wut verwandelt, in einen merkwürdigen, auf sich selbst gerichteten Zorn. Sie hatte es nicht gepackt. Hatte bei ihrem kleinen Test kläglich versagt. Vielleicht … vielleicht würde sie sich nie mehr trauen. Nie mehr mit ihrem Vater zusammen durch Höhlen tauchen.
»Verflucht«, presste sie zwischen ihren Zähnen hindurch, aber nur ein leises Zischen kam heraus. Sobald sie das Wasser verlassen hatte, war die Angst in sich zusammengefallen und verschwand. Aber das half ihr auch nicht weiter. Den ganzen Tag über, den sie mit Lázlo unterwegs gewesen war, hatte sie kein einziges Mal an ihre Angst gedacht, na ja, zumindest nicht öfter als zwanzig Mal. Aber kaum tauchte ihre Nase ins Wasser …
»Verflucht!« Diesmal laut. Richtig laut.
»Das hilft!«
Lena schreckte zusammen, als plötzlich ein gelber Kreis vor ihr auftauchte. Eine Sonnenblume. Und am grünen Pflanzenstiel eine faltige und fleckige Hand.
»Die Blumenfrau«, sagte Lena erschrocken, als sie die Oma mitsamt ihrem grünen Plastikeimer erkannte.
»Éva«, korrigierte sie lächelnd – wenn auch mit zusammengekniffenem Mund.
»Lena«, stellte Lena sich vor. »Sie sprechen …«
»Deutsch, Ungarisch, Wienerisch, Russisch.« Die Blumenfrau namens Éva kicherte. »Wir Alten haben zwar wenig von der Welt, aber viel von ihren Sprachen mitbekommen.«
»Ah, schön«, sagte Lena und überlegte, dass es doch viele Spinner auf der Welt gab. »Sie haben mir gezeigt«, bedankte sie sich, »wo der Typ mit meinem Rucksack hin ist.«
Éva nickte. »Und dein Kavalier.« Wieder lachte sie und schob die Sonnenblume noch etwas tiefer in Lenas Nase. »Es bringt nichts, den Regenmantel nach dem Regen anzuziehen«, brummelte Éva geheimnisvoll. »Besser, man freut sich an der Sonne, die kommt. Hier nimm. Für dich nur 100 Forint.«
Das waren, wenn Lena sich nicht irrte, nur ein paar Cent. Sie kramte in ihrem Rucksack – demselben, den
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