Blutrotes Wasser
Scheinwerfers die Sätze entziffern konnte:
»2.00 Uhr, Skulpturenpark, allein. Kein Wort zu irgendjemandem. Wichtiger Auftrag der Fekete Sereg. Auf, auf, Ungarn.«
Lázlo starrte in die Nacht. Die vom Regen gewaschene Luft kühlte seine Stirn und pustete die Müdigkeit davon. Als er sich auf das Mofa schwang, fühlte er sich wie ein unbesiegbarer Cowboy, der sein Pferd bestieg. Wer hatte ihm den Zettel zugesteckt? Er tippte auf Janosch. Aber warum?
Er wusste es nicht.
1.36, Hauptkommissar Frenyczeks Wohnung, VI. Bezirk
Er wachte von einem Schrei auf. Kein Mensch, aber auch keine Katze. Eher ein Vogel. Frenyczek rieb sich die Augen und suchte seinen Wecker. Der stand wie immer auf der Kommode neben dem Bett und leuchtete ihm höhnisch eine 02:36 entgegen. Der Kommissar stöhnte – noch eine schlaflose Nacht konnte und wollte er sich nicht leisten. Gähnend stand er auf, pinkelte im Bad und trank ein Glas Wasser in der Küche. Nein, es lief gar nicht gut, es lief, wenn er ehrlich war, überhaupt nicht. Und heute war der Chef angerauscht, hatte ihre Einheit zusammengestrichen und Frenyczek mit Zwangsurlaub gedroht, wenn er nicht von seiner fixen Idee ablasse. »Ein Giftanschlag im Gellért-Bad?«, hatte der Chef gegrunzt: »Lächerlich!« Hatte er recht? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht, und dann …
Der Ermittler drehte erneut am Wasserhahn und füllte sein Glas. Die letzte denkwürdige Information hatte ihn gestern erreicht: Der Diebstahl von einem Liter hochkonzentrierter Flusssäure. Ein gefährliches Kontaktgift, wie ihm die Kriminaltechniker erklärt hatten. Ätzte sich sogar durch Glas, dieses Zeug, und drang in menschliche Haut ein, wie die Säure der Aliens in Ridley Scotts Film sich durch Metall fraß. Aber ein Liter? Verdünnt im Wassersystem der Molnár János? Das war doch zu wenig für so einen Anschlag, oder nicht?
Die blutrote Farbe im Gellért-Bad, der Einbruch ins Parlament, die nächtliche Explosion im Wald. Und jetzt das. Flusssäure.
1.45 Uhr, Skulpturenpark Budapest, Szabadkai utca
Lázlo ließ das Mofa ausrollen. Der Skulpturenpark * , eine der Touristenattraktionen der Stadt, lag ziemlich weit draußen im XXII. Bezirk. Mit dem Bus war man eine gute halbe Stunde unterwegs, aber der fuhr natürlich nicht nachts. Die Straßen lagen still da: Kurz vor zwei machte selbst Budapest manchmal eine Pause und nickte ein.
Der Mementopark, wie er auch genannt wird, war eine Grünfläche, kaum größer als ein Fußballfeld. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Regimes in Ungarn hatte man hier einen Haufen kommunistische Denkmäler aufgestellt. Meterhoch, wirklich gigantisch und alles überragend, standen Marx und Engels herum, Lenin oder im Sturmschritt voranpreschende Arbeiter mit Fahne. Sozialismus in Größenwahn. Amüsant, fanden die Touristen. Ein distanzierter und doch bewahrender Umgang mit der Vergangenheit, sagten die Politiker. Ekelhaft, dachte Lázlo. Überall sonst auf der Welt hatte man die Statuen von Stalin und Co zerschmettert oder eingeschmolzen – in Budapest gönnte man ihnen einen Park.
Lázlo wartete am Eingang bis kurz nach zwei Uhr. Niemand kam. Seufzend schloss er das Mofa ab – offensichtlich lag der Treffpunkt auf dem Parkgelände. Er holte die Taschenlampe heraus, die er sich vor ein paar Tagen aus dem Arsenal der Fekete Sereg abgegriffen hatte: Aluminium, leicht, LED-Leuchte und ziemlich cool. Mit gespitzten Ohren schlich er vorwärts. Ein Großteil des Statuenparks wurde von einer roten glatten Ziegelmauer eingegrenzt, die mindestens drei Meter hoch war. Zweifellos nicht, um die Denkmäler zu beschützen, sondern, um die Touristen um ihre 1500 Huffis * Eintrittsgeld zu erleichtern. Aber im hinteren Teil gab es Lücken in der Mauer und nur einen kleinen Zaun. Man musste sich zwar durch Buschwerk und Geröll kämpfen, aber ein großes Problem war das nicht. Lázlo ging an der Mauer entlang und lauschte: ein bisschen Wind, ein paar raschelnde Bäume, eine klagende Eule. Sonst nichts.
Bald hatte er das Ende der Ziegelmauer erreicht. Er schlüpfte durch kratziges Gehölz und kletterte über den Zaun. Horchte auf die Stille. Mittlerweile schwiegen sogar Wind, Blätter und Käuzchen. So leise wie möglich huschte Lázlo vorwärts, ließ nur ab und an die Taschenlampe aufblitzen. Auch die alten Skulpturen schwiegen – hoch wie Häuser reckten sie sich in den Nachthimmel, schwarze Schatten der Vergangenheit. Tagsüber mochte dieser Ort ja einem Garten gleichen,
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