Blutrotes Wasser
steig ein.«
Das tat sie, ließ aber seine Hand noch nicht los. Er küsste sie. Fest und verzweifelt. »Und was immer du tust, meine Holde …«, flüsterte er dann und stockte.
»Was?«
»Nichts. Doch. Mein Vater, also er hat einmal zu mir gesagt: Jeder einzelne Mensch entscheidet – so klein er auch ist. Denk daran, ja?«
Lena schluckte. »Ich werde an dich denken, Lázlo.«
Er schenkte ihr ein trauriges Lächeln, dann riss er sich los und klopfte auf das Wagendach. Sie fuhren los. Lena drehte sich nach hinten, schaute Lázlo an, solange sie ihn sehen konnte. Dann blickte sie auf ihre Taucheruhr: 16.01 Uhr. Ihr blieben noch 59 Minuten, bis die Giftbomben hochgingen.
16.11 Uhr, Burgberg
Lázlo stolperte die Treppen hinab, die zur Donau führten. Sein Blick huschte immer wieder zurück, konnte aber keine Verfolger erkennen. In der einen Hand hielt er das Handy, das er György abgenommen hatte, und grinste erleichtert, als er sah, dass es bereits eingeschaltet war. Mit der PIN-Nummer hätte er nämlich nicht dienen können. Egal. Mit der anderen Hand zupfte er die Visitenkarte heraus. Hauptkommissar Frenyczek. Wenn Lázlo ein Mensch zuhören würde, dann wahrscheinlich er. Keuchend blieb er stehen und tippte die Ziffern ein. Wieder ein Blick nach hinten – niemand. Hatten sie sich so schnell zurückgezogen? Oder glaubten sie, Lázlo wäre nicht wichtig? Wahrscheinlich. Holló würde nie von seinem Plan abweichen. Der Rabe schickte seine Armee los, heute am Stephanstag, und kein flüchtender Lázlo würde ihn aufhalten können.
Vielleicht doch.
»Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar«, sagte eine nette, synthetische Stimme in sein Ohr. Verflucht!
16.13 Uhr, im Taxi
»Handy?«, fragte Lena den Fahrer und setzte das süßeste Lächeln auf, das sie unter diesen Umständen zustande brachte. Es schien zu klappen. Nach einem kurzen Zögern kramte der Ungar im Handschuhfach und hielt ihr das Telefon hin.
»Köszönöm szépen«, sagte Lena artig.
Der Taxifahrer strahlte.
Aber wen sollte sie anrufen? Die einzige Nummer in ihrem Kopf war die von zu Hause. Sollte sie ihre Mutter anrufen? Und was sollte sie ihr sagen? Mama, hier geht gleich eine Bombe hoch, ruf doch mal einen Kommissar Frenyczek an? Unsinn. Auch Sándors Handy-Nummer fiel ihr nicht ein. Die Polizei hier in Budapest? O ja, wähl 112 und erkläre einem Budapester Schreibtischbullen, was hier abgeht. Mit zitternden Fingern legte Lena das Handy zurück. Nein. Sie meinte, ihre Armbanduhr höhnisch ticken zu hören. 16.14 Uhr. Noch 46 Minuten. Wenn sie nicht sofort Sándor fand, war alles zu spät.
16.15 Uhr, vor dem Parlamentsgebäude, Kossuth tér
Da war es, das Detail. Frenyczek hob den Kopf, fast als würde er die Spur seines Feindes wittern. Immer noch stand er am Rand des Parlamentsgebäudes und suchte die Menschenmenge ab. Direkt gegenüber eines Seiteneingangs hatte man eine Bühne aufgestellt, wo junge Burschen einen traditionellen Tanz aufführten, geleitet von einem Mann mit schwarzem Umhang, Degen an der Seite, Lorbeerkranz und einer lächerlichen Silbermaske vor dem Gesicht. Die Prozession, die Stephans heilige Hand durch die Gegend trug, war in vollem Gange, die Flugzeuge röhrten immer noch über die Donau und lieferten sich Rennen. Und das Detail, das Hauptkommissar Frenyczek Angst machte? Kinder. Zuerst nur ein kleines Grüppchen am Haupteingang des Parlaments, mit Zuckerwatte und Bratäpfeln. Dann eine zweite am östlichen Nebeneingang. Eine dritte Gruppe. Ihre Zahl wuchs so langsam und selbstverständlich, dass Frenyczek sie anfangs kaum bemerkte. Aber jetzt? Er überflog die Zahl, schätzte ab und stöhnte. Es kam ihm vor, als bedrängten mindestens hundert Kinder und Jugendliche das Parlament, manche kaum älter als 12, andere vielleicht schon über 18. Nur Jungs. Und von ihnen ging eine eigenartige Kraft aus, eine gnadenlose Ruhe und etwas, ja wahrhaft Unheimliches. Frenyczek brauchte eine Weile, um dieses Gefühl zu begründen: Keines dieser hundert Kinder lachte.
Was zum Teufel ging da vor? Ein verdammter Flashmob? Eine Demo mit dem Titel »Kinder an die Macht«? Trotz der sommerlichen Hitze begann der Kommissar zu frösteln.
»Hier Rot 3«, meldete sich sein Headset im Ohr.
»Grün 1 hier, was gibt es?«
»Chef, vor mir steht Lena Meinrad. Sie behauptet, sie wisse, wo die Giftfässer lagern. Und …«
»Was?«
»Dass die Dinger um fünf Uhr hochgehen.«
Frenyczek schaute auf seine Rolex. 16.21 Uhr. »Sind Taucher
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