Blutsäufer (German Edition)
ausführen.
Franz kam ihr ein Stück entgegen und
unterstützte sie, als sie die Arme zurückzog und den Flaschenhals zum Mund
führte.
Karla trank hastig, verschluckte sich und
spuckte in den Nachttopf vor ihr. Dann sah sie ihn wieder an. „Hast du …?“
„Ja?“
„Hast du …?“
„Was habe ich?“, fragte Franz geduldig.
„Schlüssel?“
„Wofür?“
Sie rasselte mit der Kette, und sein Blick
fiel auf den dicken Armreif an ihrem Handgelenk.
Ich Idiot! Ja, klar, den Schlüssel meint sie,
dachte er.
„Nein“, sagte er.
In ihrem linken Auge bildete sich eine Träne.
Er konnte förmlich dabei zusehen, wie sie sich zu einer glasigen Perle wölbte und
zerfiel und wie sie dann über ihre Wange rann.
„Ich kann nach dem Schlüssel suchen gehen.“
Ihr trauriger Gesichtsausdruck hellte sich zu
einer Miene vager Freude auf.
„Hat dich die Gräfin gut behandelt?“
Sie zuckte die Achseln.
„Du …“, sagte sie. Sie drückte die
halbgeleerte Wasserflasche. Es knackte, und oben spritzte etwas Wasser heraus.
Ein Teil traf ihn im Gesicht.
„Ja?“
„Töten!“
Unwillkürlich bewegte er sich von ihr weg.
Vor ihm erschien ein Abbild der gesunden, tatkräftigen und zu allem
entschlossenen Karla, der verrückten Karla mit dem Messer. Dieselbe, die ihm eine
Schnittwunde am Hals zugefügt hatte.
„Du willst mich töten? Weshalb? Ich habe dir
doch nichts getan.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Doo … Doo … Doofarsch“, wisperte sie. „Du
musst … töten.“
„Wen denn?“ Im Nachhinein fand er seine Frage
unglaublich naiv.
Na wen wohl, dachte er, so viele Leute gibt
es hier nicht, die man töten könnte.
„Die Frau im Sarg.“
„Die Frau im Sarg?“, wiederholte er. „Liegt
die Gräfin wirklich …? Wo ist der Sarg?“
Karlas Kopf ruckte ein Stück zur Seite. „Zwei
Räume … weiter“, sagte sie.
Einen Moment schwiegen sie beide. Franz
musste darüber nachdenken, was Karla von ihm forderte. Die Gräfin töten? Ja,
sie war eine Vampirin, und Vampire waren eine Bedrohung, doch … er wollte sie
nicht töten oder vernichten (oder wie auch immer die korrekte Bezeichnung in
diesem Fall war). Oder wollte sie nicht mehr töten oder vernichten. Oder
…
Mal abgesehen davon, dass er gar nicht
wusste, wie er es anstellen sollte und er sich zudem mit Unbehagen an seinen
einzigen misslungenen Versuch und ihre heftige, für ihn äußerst schmerzhafte
Reaktion darauf erinnerte. Sein ganzer Körper erinnerte sich daran und sandte augenblicklich
Schmerzwellen aus. Und erinnerte sich nicht bloß an den Schmerz, sondern auch
an ihre schier übermenschliche Kraft und Schnelligkeit.
Es war eben nicht so einfach, wie es einem in
den Filmen und Romanen vorgegaukelt wurde: Pflock ansetzen, draufhämmern wie
ein Hufschmied und Problem gelöst. Nein, das waren Ammenmärchen, die man
kleinen Kindern erzählen konnte, aber nichts, was in der Realität funktionieren
würde.
Ich liebe die Gräfin, dachte Franz – und: Ich
habe manchmal so furchtbare Angst vor ihr, dass ich wünschte, sie wäre …
Tot?
Kann es sein, dass du gar nicht genau weißt,
was du willst?, fragte er sich.
Ja, gab er sich selbst zur Antwort, das ist
wohl das Grundproblem meines Lebens und der Pfeiler meines Charakters. Ich bin
der Mann, der nicht weiß, was er will. Der das aber genau weiß.
Ich bin der Mann mit den ambivalenten Gefühlen,
der Hin- und Hergerissene, der Heute-so-morgen-so-Mensch. Ich bin der, der
alles anfängt und nichts zu Ende führt.
Kurzum: ein Versager!
Aber immerhin, dachte er weiter, bin ich kein
Großmaul, das Dinge verspricht, die es nicht halten kann. Kein menschlicher
Wicht mit dem Imponiergehabe eines Berggorillas und dem Herzen eines vom
Fluchttrieb geplagten Rehs.
Auch kein Trost, aber …
Ich kann die Gräfin nicht töten. Ich kann es
nicht!
Abermals wandte er sich Karla zu. Ihr
flehentlicher Töte-für-mich-Blick haftete auf ihm.
„Ich werde nach dem Schlüssel suchen.“
Sie nickte. „Beides … gleichzeitig.“
Was meinte sie jetzt damit? Begriffsstutzig
starrte er sie an. „Was gleichzeitig?“
„Schlüssel und töten. Falls sie schläft, kannst
du beides … in einem Aufwasch tun.“
In einem Aufwasch – die Frau hatte Nerven!
Aber was den Schlüssel anging, hatte sie
recht. Ihm fiel ein, dass er gar nicht nach ihm suchen musste, dass die Gräfin
den Schlüssel für das Schloss an seinen Ketten immer bei sich getragen hatte. Vermutlich
war es eine Art Universalschlüssel
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