Blutsauger
den Eindruck, die SMS-Nachricht habe ihre ältere Kollegin weitaus tiefer getroffen, als sie es selbst empfand. Natürlich war Fallheimer, der lebensgefährlich verletzt in der Klinik lag, ihnen beiden ein liebenswerter Kollege gewesen. Mehr jedoch nicht. Zumindest konnte sie dies für sich sagen, dachte Caroline. Ob es zwischen Melanie und ihm eine heimliche Beziehung gab, vermochte sie natürlich nicht nachzuvollziehen. Sie hatte dies bisher nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Deshalb war ihr der Gedanke, der in diesem Augenblick aufkam, irgendwie fremd. Melanie und Fallheimer? Nein, das konnte nicht sein. Melanie hätte dies nicht verheimlichen können. Nicht ihr, der besten Freundin, als die sie sich sah. Seit sie sich kannten, hatte es nie Geheimnisse untereinander gegeben. Und meist waren die Männerbekanntschaften aus gemeinsamen Aktivitäten heraus zustande gekommen. Doch nichts hatte bisher Bestand gehabt. Jedes Mal, wenn wieder Beziehungen in die Brüche gingen, trösteten sie sich damit, gemeinsam himmelhochjauchzend und dann wieder zu Tode betrübt gewesen zu sein. Caroline musste an die nächste Woche denken, die ihnen beiden ganz neue Erfahrungen bescheren würde: Zu zweit unterwegs mit dem Objekt ihrer beider Begierde. Einerseits ein Glücksfall, andererseits ein gefährliches Spiel mit dem Feuer.
»Weißt du, was Fallheimer kürzlich gesagt hat?« Melanies Stimme klang schwach und irgendwie tonlos.
Caroline klammerte sich am Lenkrad fest und sah nun ebenfalls durch die Windschutzscheibe ins Dunkel hinaus, wo sich im Licht der Straßenlampen die Silhouetten zweier eng umschlungener Personen abzeichneten.
»Er hat gesagt«, gab sich Melanie selbst die Antwort und zögerte für einen Moment, »er hat gesagt, er wisse nicht, wie lange er noch an der Klinik sein werde.«
»Wollte er weg?« Caroline war überrascht und drehte ihren Kopf zu der Kollegin auf dem Beifahrersitz. Diese atmete tief ein.
»Es hat sich nicht so angehört, als ob er seine Stelle freiwillig aufgeben würde«, erwiderte Melanie und schloss die Augen.
Caroline spürte, dass es jetzt nicht die Zeit war nachzuhaken.
9
Salbaisi war erleichtert, als Dr. Volker Moschin, der verantwortliche Oberarzt der Klinik, den schwerverletzten Kollegen übernommen und alles Weitere veranlasst hatte. Innerhalb kürzester Zeit wurde der ins künstliche Koma versetzte Fallheimer vom kreisenden Röntgenstrahl des Computertomografen schichtweise auf organische und knöcherne Verletzungen hin untersucht. Wenn es geboten erschien, weil möglicherweise Nervenstränge oder feinste Gefäße verletzt waren, würde man ihn in den Kernspintomografen schieben, in dessen Magnetfeldern diese Strukturen am besten darstellbar wären.
Salbaisi warf wieder ein Paar Gummihandschuhe in den Abfallbehälter und wusch sich die Hände. Dabei betrachtete er sich im Spiegel und bemerkte seine aschfahle Gesichtsfarbe. Nächte wie diese gingen nie ganz spurlos an ihm vorbei. Er fühlte sich erschöpft und ausgelaugt. Dabei war es erst kurz vor drei und der Dienst noch lange nicht vorbei.
»Wird er’s schaffen?«, riss ihn plötzlich die Stimme der Ambulanzschwester aus seiner Selbstbetrachtung.
Er fühlte sich ertappt und verzog das Gesicht zu einem verlegenen Lächeln. »Fallheimer?«, fragte er rhetorisch zurück, um Brigitte ernst anzuschauen. »Man wird sehen müssen, was die CT zeigt. Ich tipp mal auf einige Frakturen. Muss nicht unbedingt was Dramatisches sein.«
Brigitte hoffte inständig, dass Salbaisi recht behielt. Ihr war schlagartig bewusst geworden, dass dieser Notfall soeben weitaus mehr war als ein Vorgang, wie er in dieser Abteilung viele Hundert Male im Jahr vorkam. Nein, der Mann, den sie vorhin gebracht hatten, war einer von ihnen. Dazu noch einer, der nicht nur fachlich anerkannt, sondern auch menschlich äußerst beliebt war.
Salbaisi griff nach einigen Papieren auf seinem Schreibtisch und fragte: »Wie viel haben wir denn noch?«
»Mindestens zehn«, erwiderte die Ambulanzschwester. »Aber nichts Akutes, wie mir scheint.«
Der Arzt ließ sich in seinen Schreibtischstuhl sinken, atmete tief durch und sah zur Uhr. »Noch sind die Faschingsveranstaltungen nicht beendet.«
Brigitte, die ihm die Blätter mit den Daten der wartenden Patienten gebracht hatte, machte sich auf den Weg, um den nächsten aufzurufen. »Eine Faschingsverrückte hockt noch draußen«, meinte sie beiläufig und fügte angewidert hinzu, »angepinselt von unten bis oben,
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