Blutsauger
an die üblen Geschäftemacher denken, die in den späten 80er-Jahren auf skrupellose Weise versucht hatten, diese herrliche Dünenlandschaft mit einem großen Hotelkomplex zu zerstören. Bis zum Rohbau war das illegale Projekt bereits vorangetrieben worden, ehe die Inselregierung den Mut aufbrachte, es kurzerhand sprengen zu lassen. Medienwirksam sei dies am Umwelttag des Jahres 1989 geschehen, hatte Brugger einmal irgendwo gelesen. Vom Hotel Les Dunes zeugten im westlichen Dünenbereich nur noch ein paar Fundamentreste.
Bruggers Blick wanderte wieder zur roten Digitaluhr. Daheim war’s schon nach zwei. Er überlegte, ob er noch einmal den Versuch unternehmen sollte, seine Frau anzurufen. Seit er wieder mit dem Taxi ins Hotel gekommen war, hatte er mehrfach versucht, sie zu erreichen. Doch weder auf dem Festnetz noch am Handy hatte sich jemand gemeldet. Wahrscheinlich, so redete er sich ein, hatte seine Frau die Gelegenheit wahrgenommen, mit einer ihrer Freundinnen auszugehen, schließlich waren die Kinder während der Faschingsferien bei Onkel und Tante.
Es nützte nichts, gegen die innere Unruhe anzukämpfen, die ihm die Müdigkeit geraubt hatte. Er entschied sich, das kleine Fläschchen Rotwein aus der Minibar als Schlummertrunk zu verwenden. Mit dem eingeschenkten Glas kehrte er wieder auf den Balkon zurück und ließ sich in den gepolsterten Gartenstuhl sinken. Er nahm einen kräftigen Schluck, stellte das Glas neben sich auf den Boden und schloss die Augen. Er versuchte, an die kommenden Tage zu denken und sich in den schönsten Fantasien auszumalen, wie sie ablaufen würden.
Aber so sehr er sie auch herbeisehnte, es fiel ihm zunehmend schwerer, sich darauf zu konzentrieren. Warum, verdammt noch mal, war seine Frau nicht ans Telefon gegangen? Sogar die vier SMS, die er bereits versendet hatte, waren unbeantwortet geblieben.
6
Mit einem Schlag herrschte Hektik. Notarzt, Rettungssanitäter, Vorbereitung für eine Operation. Salbaisi blieb in dieser Situation ausgesprochen ruhig und gelassen. Er entschuldigte sich bei dem jungen Mann, dessen klaffende Fingerwunde er gerade mit zwei Stichen genäht hatte, und übergab ihn in die Obhut der Ambulanzschwester.
»Ich werd gebraucht«, sagte der Arzt und verschwand im Flur. Dort wurde gerade eine fahrbare Liege in den Nebenraum gerollt. Salbaisi sah auf den regungslosen Körper, der mit dem Rettungswagen gebracht worden war. Am Kopf hatten die Sanitäter eine offenbar stark blutende Wunde versorgt. Ein Intubationsschlauch, mit dem die Atemwege in Mund und Rachen freigehalten wurden, war mit einem kleinen Beatmungsgerät verbunden. Der Patient war bewusstlos, schien jedoch in stabiler Verfassung zu sein, was die Vitalwerte betraf.
»Es ist Fallheimer«, informierte der Notarzt im Vorbeigehen. Seine Stimme war schwach und verriet Aufregung.
»Fallheimer?«, wiederholte Salbaisi irritiert und folgte der Liege in den sogenannten Schockraum, in dem die Erstversorgung von Schwerverletzten erfolgte. Einen kurzen Blick konnte er auf den bewusstlosen Mann werfen, was allerdings genügte, um Gewissheit zu bekommen. Es war tatsächlich Fallheimer. Oberarzt aus der Gynäkologie und, soweit Salbaisi sich entsinnen konnte, am Abend für den Spätdienst eingeteilt gewesen.
»Unfall?«, fragte Salbaisi, als sie in dem Raum angekommen waren, in dem der Notarzt eine Spritze aufzog. Seine orangefarbene Schutzweste hing ihm regennass über die schmalen Schultern, mit denen er ratlos zuckte. »Drüben in der Heidenheimer Straße, war wohl auf dem Weg zum Parkplatz.« Während er dem Schwerverletzten den Inhalt einer Spritze über einen Zugang am Unterarm verabreichte, fügte er an: »Schädelhirntrauma. Verdacht auf innere Verletzungen.«
Salbaisi entschied: »CT und Sono.« Mithilfe des Computertomografen, der den Körper innerhalb kürzester Zeit schichtweise in kleinste Röntgenbilder zerlegte, blieb keine Verletzung verborgen – und die Sonografie warf mittels Ultraschallwellen ein Bild vom Zustand der inneren Organe auf den Monitor. Nach einem Verkehrsunfall reine Routine. Doch Salbaisi spürte, wie ihm etwas den Hals zuschnürte. Er hatte bereits viele Opfer gesehen, die weitaus schlimmer zugerichtet waren, nur hatte er keines davon persönlich gekannt. Hier jedoch lag ein Kollege, den er ob seiner offenen und aufrichtigen Art schätzte, ein Mann, der überaus beliebt war, der dem Klischee des sympathischen Arztes entsprach, von dem jede Krankenschwester träumte. Dass
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