Blutsauger
aufgetakelt wie eine Hexe.« Brigitte blieb beim Öffnen der Tür zum Flur kurz stehen und sah zurück. »Ist ein ziemlich aufgebrachtes Weib. Hat gleich nach Dr. Moschin gefragt.« Die Ambulanzschwester überlegte, ob sie’s sagen sollte, entschied sich letztlich dazu: »Auch noch eine von , eine Adlige. Sagt mir aber nichts.«
Salbaisi, der abwesend zugehört hatte, während er die Daten des nächsten Patienten studierte, murmelte leicht genervt: »Ob von und zu, das ist mir egal. Wenn sie sich einen Arzt aussuchen will, kann sie ja morgen früh wiederkommen.« Er legte das Papier zur Seite und rief der Ambulanzschwester nach: »Was hat sie denn?«
»Irgendetwas am Knie. Sie sei auf einer Treppe gestürzt. Humpelt ein bisschen. Sieht nicht schlimm aus.«
Salbaisi vermutete insgeheim, dass es wieder einer jener Fälle war, den man genauso gut am Vormittag außerhalb des nächtlichen Notdienstes würde behandeln können. Vielleicht war es auch weniger ein Sturz von der Treppe, durch den sich die Patientin veranlasst sah, nachts zur Ambulanz zu kommen, als vielmehr der Frust über eine Nacht, die möglicherweise für sie enttäuschend verlaufen war. Bei manchen Menschen bedurfte es nur einer kleinen körperlichen Verletzung, um sich in Kombination mit der geschundenen Seele todkrank zu fühlen. Dann, wusste Salbaisi, halfen statt Medikamenten und Verbänden nur einfühlsame Worte.
Brigitte hatte den Raum bereits verlassen, als sie die Tür wieder von außen öffnete. Ihr war auf dem Weg etwas zu der Patientin eingefallen. »Sie hat übrigens nicht mal Papiere dabei – kein Geld und nichts. Ich hab halt Namen und Adresse aufgeschrieben, wie sie’s mir genannt hat. Ist angeblich privat versichert. Wir könnten Dr. Moschin fragen, wenn wir ihr nicht glauben, hat sie gesagt.«
Brigitte, die unter der halboffenen Tür stand, sah den Arzt fragend an, der sich jedoch gelassen gab. »Wir können doch niemand wegschicken, oder?«
Er hörte durch die angelehnte Tür, wie sich die Schritte Brigittes auf dem Flur entfernten. Unterdessen blätterte er die Ausdrucke durch, die sie ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ihn interessierte, wer die Frau sein würde, die sich nicht ausweisen konnte. Es konnte nur Marion von Willersbach sein, denn es war der einzige Name, der nach Adel klang. Außerdem hatte ihn Brigitte mit gelbem Leuchtstift hervorgehoben, womit nicht die Bedeutung dieser Person unterstrichen werden sollte, sondern die Tatsache, dass sie sich nicht hatte ausweisen können. Salbaisi überflog die Daten: Wohnhaft in Ulm, 39 Jahre alt. Der Name von Willersbach war ihm kein Begriff. Dass sie in Ulm wohnte und jetzt in die Ambulanz der 30 Kilometer entfernten Geislinger Helfenstein-Klinik kam, musste nichts zu bedeuten haben. So wie Brigitte ihr Äußeres geschildert hatte, war sie offenbar auf einer Faschingsparty gewesen.
Salbaisi wurde jäh aus seinen Überlegungen gerissen, als sich aggressive Männerstimmen der Tür näherten. »Nazis, alles Nazis, verstehst?«, tobte ein junger Türke, der in Begleitung eines älteren Landsmannes war, vermutlich seines Vaters, der einen eher besonnenen Eindruck machte. Brigitte führte beide in das Behandlungszimmer.
Salbaisi erkannte mit einem Blick, dass der Jugendliche ein paar Schläge ins Gesicht abgekriegt hatte. Es war ziemlich geschwollen und wies zwei blutunterlaufene Stellen auf. Ein paar kräftige Fausthiebe, vermutete der Arzt und schüttelte zuerst dem Vater und danach dem aufgebrachten Sohn die Hand. Dieser ließ sich jedoch nicht von Salbaisis ausgeglichener Art anstecken. »Nazis«, wiederholte er, ohne sich zu beruhigen. »Weißt, haben mir auf Fresse geschlagen. Ich nichts getan, weißt.«
Der Vater sprach auf Türkisch mit seinem Sohn und deutete vertrauensvoll auf den Arzt. Salbaisi bot dem jungen Mann einen Platz an und nahm starken Alkoholgeruch wahr. Er wusste, dass der Zoff jugendlicher Gruppierungen stets nur unter dem Deckmäntelchen angeblich politischer Auseinandersetzungen ausgetragen wurde. In Wirklichkeit, das hatte ihm der örtliche Polizeichef bereits viele Male erklärt, waren die beteiligten Halbwüchsigen meist intellektuell gar nicht in der Lage, zwischen links und rechts zu unterscheiden. Das zeigte sich schon daran, dass sie nach Belieben ihre Gruppenzugehörigkeit wechselten, je nachdem, wo gerade Randale angesagt war. So fanden sich vermeintliche Punker mal in den Reihen der Skinheads – oder umgekehrt, ohne dass dabei die
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