Blutsauger
Personen aus dem Weg zu räumen. Häberle hatte längst aufgehört zu glauben, dass alle schweren Verbrechen ans Tageslicht kamen. In manchen Bereichen wurde womöglich nur die Spitze des Eisberges bekannt.
»Ich glaube, ich kann Sie beruhigen«, sagte Häberle mit sonorer Stimme, um es besonders väterlich und einfühlsam klingen zu lassen. »Wahrscheinlich haben wir die Sache noch heute Nacht im Griff.«
Lena zögerte. »Sie … Sie kennen den Täter?«
»Den Täter – oder die Täterin«, stellte Häberle klar und sah zum Meer hinaus.
»Wissen Sie«, kam es zaghaft zurück, »mir ist da etwas eingefallen, das sich allerdings wohl erübrigt hat.«
»Selbst dann sollten Sie es mir sagen. Manchmal sind es Kleinigkeiten, die von Bedeutung sind.«
»Vater hat mal vom großen Doc gesprochen.«
»Vom großen Doc?«, wiederholte Häberle.
»Und dass es da wohl irgendwelche Querelen gegeben hat«, fügte Lena schnell an. »Das war im Herbst. Ich hab Vater darauf angesprochen, weil man in der Klinik irgendwas gemunkelt hat.«
»Und wer soll der große Doc sein?«, erkundigte sich Häberle ruhig.
»Keine Ahnung. Vielleicht der Brugger – oder Stuhler, keine Ahnung.«
»Und welcher Art waren die Querelen?«
»Das müssen alte Geschichten sein. Vielleicht … ja, vielleicht könnte Max etwas dazu sagen.«
»Max?«
»Max Frenzel. Der war mal dabei, als ein paar Leute aus der Klinik einen mehrtägigen Skiausflug gemacht haben. Irgendwohin in die Schweiz. Meine Eltern waren auch dabei. Da soll es zu irgendwelchen Eifersüchteleien gekommen sein.« Lena legte eine kurze Pause ein. »Das ist mir jetzt alles erst so wieder richtig eingefallen. Ob das von Bedeutung ist, kann ich natürlich nicht beurteilen.«
»Das hat Ihnen Max alles erzählt?«
»Ja. Meine Eltern haben, als sie noch zusammen waren, nie darüber gesprochen.«
»Diese Eifersüchteleien«, hakte Häberle nach, »waren in die Ihre Eltern verstrickt?«
»Ich glaube, nein. Da soll’s wohl um Frau Brugger gegangen sein, soweit ich das weiß.«
»Die hat dort …« Häberle überlegte, wie er es formulieren sollte, »… etwas mit einem anderen gehabt?«
»So genau weiß ich das nicht. Aber fragen Sie Max mal. Der weiß da sicher mehr – auch wenn er nicht gerne darüber reden will.« Lena wurde deutlicher: »Verstehen Sie jetzt, warum ich Angst um ihn habe?«
Alle verfügbaren Polizeistreifen waren inzwischen mit Martinshorn und Blaulicht auf dem Weg nach Schopfloch – aus Münsingen, Kirchheim, Nürtingen und sogar aus Reutlingen. Nachdem auch Göppingens Kripo-Chef Thomas Kurz von dem Notruf aus dem Naturschutzzentrum informiert worden war, wollte er sich ebenfalls vor Ort ein Bild verschaffen. Gleichzeitig teilten die in Geislingen verbliebenen Beamten der Sonderkommission dem Polizeiführer vom Dienst per Funk mit, dass sie bereits unterwegs seien, jedoch in den Schneeverwehungen nur mühsam vorwärtskämen. Der Beamte in der Leitzentrale versprach, die Räumdienste zu informieren, um den Einsatzfahrzeugen die Anfahrt zu erleichtern.
»Wenn dort oben einer was anstellt«, murmelte ein älterer Kriminalist aus der Sonderkommission, »dann kommt er heut Nacht nicht weit.«
»Oder er buddelt sich im Schnee ein«, kommentierte ein anderer.
Die Scheibenwischer ihres VW Passats konnten selbst auf höchster Stufe die Schneeflocken nicht schnell genug beseitigen, um dem Fahrer klaren Durchblick zu verschaffen. Die Fahrbahn war mittlerweile von einer geschlossenen Schneedecke überzogen.
»Die andern haben auch Probleme durchzukommen«, sagte der Mann auf dem vorderen Beifahrersitz und deutete aufs Funkgerät, aus dem aufgeregte Stimmen zu hören waren.
Dann ein Anruf in den Wagen. »Ja, hört«, meldete sich der Beamte.
»Häberle hat sich gemeldet«, berichtete die Stimme im Lautsprecher. »Er wollte einen von euch sprechen. Ich hab ihm gesagt, was los ist.«
Der Mann auf dem Beifahrersitz nahm das handliche Gerät dicht an den Mund. »Was hat er gewollt?«
»Ihr sollt euch den Max Frenzel nochmals vornehmen. Und auf ihn aufpassen. Häberle hat mir ein paar Punkte durchgegeben. Ich schreib sie euch auf.«
»Verstanden«, bestätigte der Beamte. Die anderen im Auto hatten nicht mitgehört. Für sie gab es jetzt Wichtigeres zu tun. Vielleicht würde sich Frenzels Vernehmung ohnehin erübrigen, dachte der Beamte. Er konnte nicht ahnen, wie nah er damit der Realität sein würde.
Brunhilde Brugger war kreidebleich und geschockt.
Weitere Kostenlose Bücher