Blutsauger
die Aus-Taste des Handys, das er in die rechte Jackentasche gleiten ließ, ohne den Vorhang zu berühren. Jede Bewegung wäre verräterisch.
Der Lichtstrahl, das konnte Frenzel von seinem Versteck aus erkennen, ging von der Infotheke aus. Dort musste jene Person stehen, die das Treppenhaus heruntergekommen war. Der junge Mann wagte kaum noch zu atmen – obwohl es angesichts des tobenden Sturms keinen Grund gegeben hätte, sich still zu verhalten. Langsam löste sich der schmale Lichtkegel von der Relief-Vitrine, glitt an der Wand entlang nach links und näherte sich bedrohlich dem Kinderbereich, den der zur Seite gezogene Vorhang begrenzte.
Frenzel spürte, wie ihm etwas den Brustkorb zusammenpresste. Sein Puls rebellierte, seine Knie wurden weich. Auf der Stirn bildete sich kalter Schweiß, der Darm schien explodieren zu wollen.
Gleich würde es geschehen.
Häberle war unruhig. Er hatte an der Strandpromenade Pulpo gegessen und zwei Bier getrunken und war in der milden Abendluft zu dem kleinen Hotel geschlendert, in dem ihm die Landespolizeidirektion ein Zimmer gebucht hatte.
Am liebsten wäre er in die nächste Maschine gestiegen und nach Hause geflogen. Seine Mission auf Gran Canaria war beendet. Doch der Rückflug war erst für morgen Nachmittag gebucht. Jetzt musste er auf die Kollegen daheim vertrauen. Er hatte sich zwar eine Theorie zurechtgelegt und sie mit Linkohr besprochen – doch darin klaffte noch eine große Lücke. In der Rechnung, die er aufgemacht hatte, gab es einen unbekannten Faktor. Mochten Eifersucht und Intrigen eine Rolle gespielt haben – aber ausschlaggebend war schließlich die Gefahr gewesen, die sich ergeben hatte, als die dubiosen Machenschaften in der Klinik scheibchenweise ans Tageslicht gekommen waren.
Häberle sah auf die Uhr. Es war 21.30 Uhr. Zu Hause bereits 22.30 Uhr und vermutlich bitterkalt. Er hatte sich einen Sessel auf den schmalen Balkon gestellt und aus der Minibar eine kleine Flasche Rotwein geholt. Sein Handy steckte im Brusttäschchen des Jeanshemds. Denn er durfte Linkohrs Meldung über die eingeleitete Aktion unter keinen Umständen verpassen.
Er umklammerte das Balkongeländer, um über Flachdächer hinwegzuschauen, die mit Klimageräten übersät waren. Das Hotel, so schätzte Häberle, stammte aus den Anfangszeiten des Kanaren-Tourismus und stand ein Stück weit vom Meer entfernt. Häberles Zimmer befand sich im vierten und damit obersten Stockwerk dieses vergleichsweise bescheidenen Gebäudekomplexes. Vermutlich waren hier insbesondere Individualreisende untergebracht. Den Ansprüchen der großen Reiseveranstalter wurde das Haus schon lange nicht mehr gerecht.
Häberle sog die frische Abendluft in sich hinein, erkannte weit draußen auf dem Meer einige Lichter, die möglicherweise zu einem Kreuzfahrtschiff gehörten, und richtete dann seinen Blick auf den klaren Sternenhimmel. Noch während er nach dem Großen Wagen suchte, riss ihn das Handy aus den Gedanken. Jetzt schon?, dachte er. Das war noch zu früh für eine Meldung aus Deutschland. Er griff nach dem Gerät und erkannte auf dem Display die spanische Vorwahlnummer.
»Ja, hallo«, meldete er sich und ging ins Zimmer zurück.
»Entschuldigen Sie. Ich bin’s … Ich muss mit Ihnen reden.« Es war die Stimme Lenas.
69
Linkohr und Kerstin fuhren voraus, gefolgt von einem Kleinbus, in dem sechs Kollegen der Sonderkommission saßen. Seit Stunden schneite es unablässig. Das Licht der Scheinwerfer reflektierte sich an den dicken Schneeflocken, die dem Fahrzeug frontal entgegenwirbelten. Noch gelang es den Räumdiensten, die wichtigsten Straßen einigermaßen befahrbar zu halten.
»Außer dem Stromverbrauch hat sie keinen Beweis dafür, dass sie die beiden Tage daheim war«, sagte Linkohr plötzlich und brachte damit zum Ausdruck, dass ihn Brunhilde Brugger weiterhin beschäftigte.
»Sie hat gesagt, sie habe sich eine Auszeit genommen und sei deshalb nie ans Telefon gegangen«, resümierte Kerstin die bisherigen Erkenntnisse.
»Auszeit. Auch so ein Geschwätz von heute. Irgendetwas wird sie doch getan haben. Am Computer geschrieben oder so.«
»Das werden wir feststellen, wenn wir ihn beschlagnahmt haben. Aber vergiss nicht, man kann auch die Systemzeit im Computer manuell verändern. Dann kriegen die Dokumente, die du schreibst und speicherst, eine falsche Uhrzeit.«
»Hm«, gab sich Linkohr geschlagen, während der Golf an immer höher werdenden Schneewänden entlangrollte. »Und als
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