Blutsbande: Die Rachel-Morgan-Serie 10 - Roman (German Edition)
»Sollen wir?«
Ich nickte und trat auf die Straße. Inzwischen waren mehr Lichter angegangen. Ich hielt den Kopf gesenkt, um nach Schlaglöchern Ausschau zu halten. Zusammen mit David ging ich zur Eingangstür. Als ich den gegenüberliegenden Bürgersteig erreichte, spähte ich an den alten Postern vorbei in den Laden, um Waydes schlecht gelauntem Blick auszuweichen. Die Fenster waren so dicht mit bunten Bildern beklebt, dass ich kaum etwas erkennen konnte.
»Ich werde nicht weglaufen«, sagte ich, als Wayde sich vorlehnte und mich quasi gegen die Tür drückte.
»Gut«, sagte er kurz angebunden und wich keinen Zentimeter zurück. »Emojin kommt gerade nach unten. Sie ist nicht mehr sicher, ob sie dich stechen will. Du hast einiges gutzumachen, Rachel.«
»Sie will sie nicht stechen?« David wich einen Schritt zurück. »Ich habe bereits bezahlt!«
Waydes Miene war hart. »Dann hättest du sie an die Kandare nehmen sollen, bevor sie Emojin fünfmal versetzt hat.«
»Es tut mir leid!«, sagte ich laut und hörte das Echo meiner eigenen Stimme. »Ich war noch nicht bereit, und ich mag es nicht, gedrängt zu werden!«
Wayde drehte sich um. »Dann schlage ich vor, dass du ihr das sagst.«
Drinnen bewegte sich ein Schatten. Dann öffnete sich eine Innentür und für einen Moment war die Gestalt von Licht umrahmt. Ich sah Stufen, die nach oben führten, dann fiel die Tür wieder zu. David trat zurück und die Ladentür wurde von einer breit gebauten Frau in einem blau-grünen, sariartigen Kleid geöffnet. Sie war barfuß.
Ich erstarrte. Die Frau war absolut atemberaubend. Ich hatte noch nie eine so große Frau gesehen, die mit solcher Eleganz und Würde auftrat. Ihre Haut war cremeweiß, ohne jeglichen Makel und nicht durch Tätowierungen entstellt, und wirkte so weich und sanft wie die eines Neugeborenen. Ihr Haar war silberweiß und im Nacken hochgebunden. Sie hatte ein paar kleidsame Falten, die davon sprachen, dass sie gerne lächelte, aber im Moment lächelte sie nicht. Indianische und französische Vorfahren vielleicht? Ich war mir nicht sicher.
»Emojin«, sagte David durch die Gitterstäbe. »Danke. Wir haben sie endlich in die Enge getrieben.«
»Ich habe noch nicht gesagt, dass ich es tun werde«, sagte die Frau, und ich trat Wayde auf den Fuß. Er wich zurück, und gleich fühlte ich mich besser. »Rachel Morgan.«
Ich fühlte mich tatsächlich in die Enge getrieben, als ihre braunen Augen mich musterten. »Ähm, tut mir leid«, sagte ich und fühlte mich, als wäre ich wieder im Kindergarten. »Es war dämlich, Sie zu versetzen, aber ich war noch nicht bereit, und ich mag es nicht, wenn man mich drängt. Nehmen Sie meine Entschuldigung an?«
Sie atmete tief durch und sah mich von Kopf bis Fuß prüfend an. »Vielleicht. Kommen Sie rein, dann höre ich mir an, was Sie zu sagen haben.«
Was ich zu sagen habe? Aber sie hatte das Gitter bereits aufgeschlossen und sich abgewandt. Mit eleganten Bewegungen, die so gar nicht zu ihrem massigen Körper passen wollten, ging sie tiefer in den Laden hinein.
David öffnete mir die Tür und ich ging hinein. Hinter mir kam Wayde und dann David. Sie ließen die Tür mit einem leisen Knall zufallen und schlossen uns so ein. Ich atmete tief durch und nahm die Atmosphäre des Raums in mich auf.
Als Erstes bemerkte ich, dass es so gut wie kein Echo gab. Außerdem war es warm, wahrscheinlich um die fünfundzwanzig Grad. Sofort entspannte ich mich. Der Betonboden war mit einer fantastischen Mischung aus Farben verziert, die ein Tattoo nachahmten, aber ein Großteil davon war verblasst. Die Wände waren mit Skizzen übersät, offenbar mehrere Lagen tief. Vorne gab es eine Sitzgruppe aus alten Bussitzen und einem Friseurstuhl, eine große, fleckige Mikrowelle und daneben eine große Kaffeemaschine. Von dem Hauptraum gingen drei Zimmer ab, die woanders als Büros gedient hätten. Sie hatten keine richtigen Türen, sondern eher Fenster, die von der Decke bis ungefähr auf Hüfthöhe reichten, und geschlossen waren.
Emojin schob ihren breiten Körper hinter einen U-förmigen, geschäftsmäßig aussehenden Tresen in der Mitte des Ladens. In den zerkratzten Glasvitrinen lagen Schmuckstücke für Piercings. Hinter ihr standen tiefe Regale, die mit Skizzenbüchern aller Art gefüllt waren. Das größte war dicker als ein Musterbuch für Tapeten.
Wayde sah, dass David und ich zum Tresen gingen, schob sich die Daumen in die Hosentaschen und schlenderte zu der jungen Frau, die
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