Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
sonnendurchglühtem rieselnden Sand bepacken zu lassen. Aber in einer Winternacht nur feuchtkalten, klumpigen Sand als Kopfkissen, als Unterbett und auch als Decke zu haben, ist so entsetzlich, daß es selbst einem mit allen Elendswassern gewaschenen entsprungenen Fürsorgezögling unmöglich ist, in diesem Bett auszuharren. Zumal wenn der Entsprungene Willi Kludas heißt und eben die Schreckensnacht Köln—Berlin überstanden hat. Ohne auch nur eine Minute geschlafen zu haben, klettert er morgens vier Uhr wieder aus dem Sarg am Kronprinzen-Ufer. Steht da, krumm und lahm vor Kälte wie ein gichtiger Greis. Still und schwarz liegt die Spree da, der Lehrter Bahnhof, das Lessing-Theater. Nirgends eine Spur menschlichen Lebens.
Er entsinnt sich, daß in der Zentralmarkthalle am Alexanderplatz um diese Morgenstunde stets Hilfskräfte zum Transportieren der Waren gebraucht werden. Vielleicht kann er da ein paar Groschen verdienen.
Die Prachtstraße Unter den Linden steht auch dem abgerissensten Vagabunden offen, er darf jetzt sogar durch das Kaisertor des Brandenburger Tores gehen, wenn es ihm Spaß macht. Dafür hat die Republik gesorgt. Extrawürste werden nicht mehr gebraten. Wir sind alle gleichberechtigte Bürger.
Vor den Eingängen zur Markthalle stehen die Burschen in ganzen Rudeln und warten darauf, von einem Händler für eine oder zwei Stunden als Helfer angenommen zu werden. Immergeringer werden die Chancen. Die Händler klappern nicht mehr so mit dem Silbergeld. Sie schuften und rackern sich allein ab, weil sie die Groschen für den Helfer selbst dringend genug brauchen. Ohne seine Leidensgenossen zu beachten, steht Willi Kludas herum und glaubt selbst nicht, daß es ihm gelingen wird, hier etwas zu verdienen. Da ruft aus der Halle eine Händlerin: „Ein Mann …, hierher!“ Willi stürzt hin, ihm nach das ganze Rudel. Alle scharen sich um die Händlerin. Stimmen aus dem Rudel werden laut und drohend: „Wat will denn der hier? Det is ja een Fremder …, uns de Arbeet wechnehmen …!“ Ein Rippenstoß trifft Willi. „Hau ab, Mensch! Woll lange keene Keile jekricht, wat?“ Man versucht, Willi abzudrängen. Im ersten Augenblick gelingt es. Willi ist in dem Rudel untergetaucht, die Händlerin hat schon einen Burschen angenommen. Auch jetzt noch drängt die Horde Willi immer weiter zum Ausgang. Da packt ihn sinnlose Wut. Mit einem Satz springt er auf irgendeinen Burschen zu und hat ihn durch die Wucht des Anpralles niedergeworfen. Wutgeheul des ganzen Rudels. Zwei andere Burschen springen ihrem Kameraden bei. Blindlings schlägt Willi zu, wohin er nur trifft. Er fühlt, wie ihm das Blut aus der Nase spritzt. Macht nichts. Seine Fäuste prallen in die Gesichter seiner drei Angreifer. Die ganze Verzweiflung der letzten Nächte entlädt sich in einem hemmungslosen Wutrausch.
Plötzlich gerät die zuschauende Horde in Aufruhr. Alle, auch Willis Angreifer, flüchten durch die Halle in Richtung eines anderen Ausganges. Keuchend und blutwischend stehtWilli da. Warum haben die so plötzlich aufgegeben? Da sieht er zwei Marktpolizisten auf sich zukommen. Verflucht! Weg! Der nächste Stand mit seinen Korb- und Kistenpyramiden hat ihn schon den Blicken der Polizisten entzogen. Wenn sie dich hier schnappen, ist es aus mit der Freiheit, Willi! Er rennt und rennt. Die wohlgenährte Gemütlichkeit der Polizei hat ihre Aktion schon lange aufgegeben. Auf der Toilette des Bahnhofes Alexanderplatz reinigt Willi sich von seinem Blut. Die Keilerei, das Blut haben ihn in eine rabiate Stimmung gebracht. Für ein paar Scheiben Brot könnte er einen Menschen niederschlagen, wenn er das Brot nicht gutwillig hergäbe.
Es ist Tag geworden. Die wenigen, die noch nicht zu dem Hungerheer der sechs Millionen gehören, eilen auf ihre Brotstelle. Nur nicht zu spät kommen. Der Chef könnte schlechte Laune haben. Die Warenhäuser, die Läden öffnen ihre bis zum Platzen mit Ware angefüllten Magazine. Die Verkäufer ziehen die Rolläden vor den Schaufenstern hoch, wo alles so verführerisch aufgebaut ist, daß dem Beschauer das Wasser im Munde zusammenläuft. Aber das Wasser im Munde sättigt nicht, das Beschauen sättigt nicht, der Geruch der Lebensmittel, der durch die offene Tür auf die Straße dringt, sättigt nicht! Alles macht den Hungrigen nur noch wütender, toller vor Verlangen, sich den Bauch vollzustopfen mit dem Überfluß der anderen! Willi Kludas steht plötzlich in einem Lebensmittelgeschäft. Er weiß nicht, wie er
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