Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
hereingekommen ist. Dicht vor dem gläsernen Ladentischaufbau mit der Fülle der Würste und Braten, der Käseund Speckseiten, der appetitlich arrangierten Salate und Fischkonserven steht er. Der Verkäufer fragt. Willi fordert … Ein Brot, ja, erst einmal ein Brot, ein großes, ganzes Brot. Dann Butter, ein Viertelpfund, hier, von der Wurst auch. Von dem Schinken. Eine Dose Halberstädter Würstchen, eine Büchse Sardinen … Der Verkäufer schneidet ab, klopft die gelbe Butter zu einem peinlich genauen Rechteck und verziert es noch mit dekorativen Kerben.
Willi kommt zur Besinnung. Was tut er hier? Was bestellt er für mindestens fünf Mark? Er hat doch kein Geld! Nicht einen Pfennig. Er ruft dem Verkäufer zu: „Geld vergessen … gleich wieder hier“ und rennt die Straße hinauf. Durcheilt die endlosen Straßen, die grauen Proletarierstraßen. Mit ihm der Hunger, der wütender, immer wütender wird. Bald steht Willi wieder vor den Fenstern eines Lebensmittelgeschäftes, stiert in die Auslagen, bis alles vor seinen Augen verschwimmt. Soll er in die Läden gehen und betteln? Langsam setzt er den schweren Schritt in eine Bäckerei. Ist noch an der Tür, da empfängt ihn schon die Stimme einer rosigen Verkäuferin: „Wir geben nichts!“ Die sehen es dir schon an, Willi, daß du nicht für einen Groschen Schrippen kaufen kannst.
Mit großen Schritten überquert er die Straße und geht, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, in ein Buttergeschäft. Er ist der einzige Kunde . Auf dem Ladentisch, griffbereit, protzt ein ganzer Berg billiger Wurst. Ausnahme, Pfund nur 88 Pfg. Willi fordert ein halbes Pfund Butter. Öffnet seine Windjacke und das Jackett. Die Verkäuferin wendet sichdem Butterfaß zu. Mit einem Griff hat Willi einen Wurstring, im gleichen Augenblick zieht er den Leib ein, stopft die Wurst in die Hose und rennt aus dem Laden. Hört nicht das Schreien der Verkäuferin, rast um die Ecke, läuft auf die andere Seite, wieder um die Ecke, fliegt durch ein Labyrinth von Straßen. Endlich wagt er es, sich umzublicken. Niemand verfolgt ihn. Niemand beachtet ihn. Er geht weiter, vor seinem hohlen Bauch sitzt die gestohlene Wurst. Plötzlich springt er auf einen vorüberfahrenden Omnibus. Als der Schaffner im Wagen kassiert hat, springt Willi wieder ab. Jetzt kann er es wagen, die Wurst zu verzehren.
In einem Treppenhaus holt er sie hervor. Sie wiegt vielleicht zwei Pfund. Dann hast du für 1,76 M. Wurst gestohlen, nein: geraubt, Willi! Jetzt aber Schluß mit den Meditationen! Die Hände reißen den Ring in zwei Teile. Die Zähne schlagen in Fleisch und Fett, kauen und zermalmen wollüstig die etwas talgige Masse. Die Augen schließen sich vor animalischem Behagen, durch die Nase kommt ein Schnaufen und Grunzen. Eine vierköpfige Beamtenfamilie der unteren Gehaltsstufen würde eine ganze Woche mit der Wurst haushalten müssen. Aber so ein Dieb, so ein Räuber, der das Geld nicht zu erarbeiten brauchte, frißt die zwei Pfund auf einen Ritt … Mit dem halbwegs gefüllten Bauch kommt auch die Angst vor den Folgen der im Hungerwahn begangenen Tat. Scheu drückt Willi sich durch die Straßen, fragt sich, wo das nächste Essen herkommen soll. Wieder stehlen? Nein, nein! Lieber krepieren, lieber zum nächsten Polizisten gehen undsich festnehmen lassen. Wo wird er schlafen? Eine schlaflose Nacht unter dem D-Zug, eine in der Sandkiste … Ins Asyl kann er nicht gehen. Da verlangen sie Papiere. Und eine Herberge nimmt wenigstens fünfzig Pfennig für die Nacht. Fünfzig Pfennig muß er haben, dann ist alles gut. Dann kann er eine Nacht schlafen, und ausgeschlafen ist alles nicht mehr so hoffnungslos.
Fünfzig Pfennig. Woher? Hätte er nur irgend etwas, das er verkaufen könnte. Die Windjacke? Vielleicht gibt ihm ein Jude fünfzig Pfennig dafür. Aber jetzt, wo kaum der Winter begonnen hat, ohne Mantel, ohne Jacke? Vielleicht noch eine Nacht im Freien? Die dritte Nacht ohne Schlaf? Nein, die Jacke wird verkauft. Wenn sie nur jemand nimmt. — Schon dem ersten Händler ist sie nicht mehr gut genug. „Verkaufen Sie sie doch an einen Arbeitslosen, in der Wärmehalle“, rät der Händler. „Wärmehalle, wo ist denn die?“ fragt Willi. „Na, hier, Ackerstraße Ecke Elsasserstraße, in dem Straßenbahnschuppen, Sie werden schon sehen.“
Gibt es Trostloseres, als diese Wärmehalle im ausrangierten Straßenbahnschuppen? Bereits die Uhr auf dem Hof sagt alles: sie steht seit Jahren auf ein Uhr vierzehn Minuten. So, wie
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