Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
Kassenraum des Wohlfahrtsamtes, und der Gläubiger läßt seinen Schuldner nicht eher wieder aus den Augen, bis er seine Mark und die ausbedungenen fünfzig Pfennig Zinsen hat.
Im Vorraum zieht Willi Kludas die Windjacke aus, geht in den Aufenthaltsraum und mischt sich unter die Händler im Gang. Einige Minuten guckt er seinen Kollegen den Dreh ab, dann ruft er in das Stimmengewirr: „Eine Windjacke, tadellos und fehlerfrei, eine Mark!“ „Eine Mark für die tadellose Windjacke, zehn Groschen für den Mantelersatz!“ Nach einigen zwanzig Minuten ist er mit einem Interessenten in einemerbitterten Ringen um den Preis. Willi will zehn Groschen haben, der Käufer will nur neun anlegen. Ergrimmt über so viel Halsstarrigkeit zieht der junge Arbeitslose die Jacke an. Zum Glück paßt sie gut. „Na?“ „Eine Mark“, antwortet Willi unbewegt. Dabei war er anfangs entschlossen, die Jacke für die Hälfte wegzugeben. „Hier haste deine Mark, olla Dickschädel!“ Wohl selten ist eine Mark so grenzenlos glücklich betrachtet worden. Er preßt das Geldstück in die Handfläche und steckt die Faust in die Hosentasche. Eine Mark! Fünfzig Pfennig für Schlafgeld, zwanzig Pfennig für zehn Zigaretten? Ja! Für zehn Pfennig alte Schrippen, weil alte billiger sind? Ja! Bleiben zwanzig Pfennig für morgen. Die Zigaretten bekommt er gleich bei seinem Händlerkollegen. Zehn Stück für zwanzig Pfennig. Scheußliche Kratzer, aber sie qualmen, schmecken nach Tabak und machen zufrieden.
Der Bäcker in der Ackerstraße, an Wärmehallenkundschaft gewöhnt, gibt für den Groschen acht alte Schrippen und zwei zermanschte Kuchenstücke. „Danke auch schön“, sagt Willi ganz glücklich. Sogar Kuchen. Ob zermanscht oder in Form ist dem Magen doch ganz schnuppe. Aber Willi opfert noch weitere fünf Pfennig. An der Kaffeeklappe in der Wärmehalle holt er sich einen Topf heißen Milchkaffee dafür. Seit Köln hat Willi nichts Warmes gehabt. Langsam, genießerisch setzt er sich mit selig lächelndem Gesicht an den schmutzigen Tisch und schabt erst einmal Wurstpellen, Zigarettenstummel und zerknülltes Papier zur Erde. Reinen Tisch für die Kuchenstücke. Er baut die formlosen, aber darum nichtweniger wohlschmeckenden Klumpen vor sich auf. Die kommen zuletzt. Als Nachtisch. Erst werden vier Schrippen verdrückt. Während die Zähne sich in die harten Schrippen arbeiten, muß Willi plötzlich wieder an die gestohlene Wurst denken. Ihm quillt der Bissen im Munde auf. Warum ist er nur nicht gleich auf die Idee gekommen, seine Jacke zu verkaufen? Dann hätte er nicht zu klauen brauchen. Hat sicher einen schönen Schreck gekriegt, die Verkäuferin. Und jetzt muß die sicher für den Schaden aufkommen …
Der heiße Kaffee rinnt ihm wie Feuer durch die Kehle. Ach, ist das gut, endlich mal wieder was Warmes. Und jetzt, jetzt kommt der Kuchen an die Reihe. Kuchen? Wann hat er den zuletzt gegessen? In der Anstalt gab es an ganz hohen Feiertagen Stollen. Für jeden zwei, drei Scheiben. Und die schmeckten auch wie Brot, das neben einem Zuckersack gelegen hatte. Aber hier! Das ist Kuchen! Obenauf was Rosiges, Weiches, wie Schlagsahne. Und innen ist Kremfüllung! Netter Kerl, der Bäckermeister. Und alles für einen Groschen. Jetzt eine Zigarette angezündet und dann in den Aufenthaltsraum, ganz nahe an einen glühenden Ofen. Bis drei Uhr ist geöffnet. Beinahe noch zwei Stunden kann er sich wärmen.
Willi setzt sich neben einen Jungen, fast noch ein Kind, fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Gierig sieht der Kleine auf Willis Zigarette. Willi fühlt die Blicke und hält dem Jungen die Tüte hin. Als Gegenleistung fühlt der Kleine sich verpflichtet, aus dem elenden Leben seiner jungen Jahre zu erzählen. Obwohl er hier seine Mutter hat, wohnt er nicht bei ihr. Lieber drückt ersich in Wärmehallen und nachts in Herbergen herum. Warum, erkundigt Willi sich. Hart und grausam kommt es aus dem kindlichen Mund: „Meine Mutter, die is ’ne Nutte. Die geht anschaffen, und denn hat se auch noch unsere einzige Stube an zwei andere Nutten vermietet. Und die bringen nu alle ihre Kerls mit rauf, meine Mutter auch … Und hinter ein Vorhang sollte ich schlafen dabei …, da bin ich lieber abgehaun …“ Willi fragt, ob seine Mutter ihn denn wenigstens mit Geld unterstütze. „Ach, die versäuft alles. Rum trinkt sie immer. Bloß immer schieren Rum … Und jetzt is se in ’n Krankenhaus: Siffelis hat se.“ „Wo schläfst du denn heute nacht?“ erkundigt Willi
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