Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
der letzte Frierende die Halle im Vorjahre verlassen hat, präsentiert sie sich wieder: grauenhaft in ihrem Schmutz, ihrer Unhygiene. Bereits in den Vormittagsstunden ist die Halle überfüllt. Gleich am Eingang zwei, drei rohgefügte Tische und Bänke. An einer Kaffeeklappe gibt es für fünf Pfennig einen Topf Kaffee und für weitere fünf Pfennig zwei trockeneSchrippen. Blinde, nie geputzte Fensterscheiben, vom Steinfußboden wirbelt trockener Staub auf. Wahrhaft, ein gesunder Aufenthalt für die vielen tuberkulosekranken Wärmesuchenden. Ein kurzer Gang führt in die eigentliche Wärmehalle. Ja, warm ist es hier. So warm, daß es infernalisch stinkt! Die Ausdünstungen hunderter ungewaschener Körper, zertragener, verschmutzter Kleidung und die Wolken schlechten Tabaks brodeln, kochen in der Hitze.
Der ganze Raum ist in die Lieblingsfarben der Berliner Wohlfahrtsinstitutionen gekleidet: graugrüne Kalkfarbe, dunkelgrüne Ölfarbe. Zerschlissen, zerwetzt, abgeschabt und beschmutzt von tausenden anlehnenden Menschenrücken. Durch das staubbelegte Glasdach dringt spärlich und angekränkelt das Taglicht. Im Raum verteilt drei, vier glühende Öfen, lange Rohre führen die Wärme überall hin. An den Wänden, in der Raummitte, links und rechts Gänge freilassend: Bank an Bank. Einige schmutzigklebrige Türen führen zu den Frauenaufenthaltsräumen und zur Toilette. Das ist alles. Nicht die geringste Ausschmückung, nicht die billigste frohe Farbe in dem Wohlfahrtsgraugrün. Überall Schmutz, Staub, Papierabfall. Zeichen jahrelanger Benutzung, Zeichen mühsam übertünchten Verfalls. Zwischen all dieser verzweifelten Trostlosigkeit, der auf dreißig Grad erhitzten Unhygiene, genießend das Geschenk der Stadt Berlin an ihre elendesten Bürger: Hunderte von Burschen und Männern. Auf den Bänken liegen und sitzen sie, dicht an dicht. Die Gänge aber sind so vollgepropft, daß es nur unter Zuhilfenahmebeider Arme gelingt, vorwärts zu kommen.
An den Wänden große Inschriften: Handeln strengstens untersagt. In den Gängen wird nur gehandelt, sie sind eine einzige Altkleiderbörse. Ein Lumpen-, ein Abfallbazar. Jeder, aber auch jeder der Armen möchte dem anderen Armen etwas verkaufen, etwas tauschen. Denkbares, Undenkbares. Altes und Neues wird angeboten: Schuhe, Strümpfe, Hemden, Unterhosen, Kragen, Schlipse, einzelne Hosen und Westen und ganze Anzüge, Sommermäntel, Wintermäntel und Joppen, Herren- und Damenhüte und -wäsche. Zerlesene Schundliteratur und schlechte Zigaretten, billiger Zuckerkram und erbettelte Stullen. Alles, alles. Sogar vor dem menschlichen Körper macht das Angebot nicht halt. Auf der Toilette bieten sich junge Burschen für zwanzig Pfennig oder eine Handvoll Zigaretten an. An der auf den überdachten Hof führenden Fensterseite sitzt eine Schicht Männer, die sich absichtlich von dem Trubel fernhält. Unter ihnen ist kein Junger. Männer von vierzig Jahren und auch viel älter. Sie alle haben irgendeine Beschäftigung. Einer sitzt in wieder und wieder geflickter Unterhose und stichelt an seiner Überhose herum. Mehrere der Männer nähen an ihrer Kleidung. Ein Alter, von langen Arbeitsjahrzehnten krumm und schief geworden, versucht, seine lädierten Schuhe wieder in Form zu bringen. Mit rührender Geduld piekt er mit der Scherenspitze Löcher in das Oberleder und näht den Riß mit dünnem Draht zusammen. Hier wird verbissen Karten gespielt, dort Rätsel gelöst. In einer Ecke tagt ein aufgeregter Debattierklub.
In den Gängen schiebt und drängt ein Händler den anderen. Einer ruft: „Eine Weste, tadellos, fünfunddreißig Pfennig!“ Ein Interessent bleibt stehen. Wo hat der Händler die Weste? Er trägt sie noch auf dem Leibe. Der Interessent kreist um den Träger und beguckt die Weste genau, bekrittelt und bemängelt und bietet fünfundzwanzig Pfennig und drei Zigaretten. Das Geschäft geht in Ordnung. Der Verkäufer zieht die Weste aus und bedeckt die Blöße mit dem zugeknöpften Jackett. Ähnlich verfährt ein Junge mit seinen noch guten Schuhen. Er zieht sie aus und tauscht sie für ein Paar jämmerlich zerrissene und eine Mark in bar. Niemand wundert sich über den Tausch. Jeder versteht nur zu gut: eine Mark baren Geldes bedeutet ein Brot und ein halbes Pfund Margarine. Sogar Bankgeschäfte werden in der Wärmehalle getätigt. Jemand braucht eine Mark. Ein anderer gibt sie ihm. Als Pfand behält er die Stempelkarte des Schuldners. Am morgigen Zahltag treffen sie sich im
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