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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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ganz, ein in Form und Farbe undefinierbarer Mantel ersetzt es. Lang, endlos und dürr und faltig ragt ein Hals aus dem Sweater. Das eingefallene Vogelgesicht könnte schon im Grabe gelegen haben.
    Neue Gäste kommen und hauen sich wortlos auf einen Strohsack. Die schlesische Olga hat die Näharbeit beendet, die Kleidungsstücke dem Eigentümer auf die Decke gelegt und löscht jetzt die Lämpchen in den beiden Schlafräumen aus. Wird wohl keiner mehr kommen. Sie zählt ihre Einnahme und legt das Geld in einen Milchtopf, der in einem sorgfältig gehüteten Versteck steht. Langsam entfernt Olga Nadel nach Nadel aus ihrem gelbgrünen dünnen Haar und nudelt den traurigen Rest zu einem drahtigen Zopf auf. In das Bett neben der Wasserleitung kommt eine Wärmflasche, die Jungens haben heute alle bezahlt … Dann beginnt ein phantastischer Auszug diverser und bunter Unterröcke. Das Bett knarrt nicht einmal, als es die leichte, aber harte Last in sich aufnimmt. Aber noch einmal rappelt Olga sich auf. Sie hat den Waschtopfdeckel vergessen. Wenn es einem ihrer Schläfer nachdem Geld im Milchtopf gelüstet und er in die Küche schleichen will, fällt der an die Tür gelehnte Deckel mit großem Getöse um und alarmiert die schlesische Olga … — —



Zwei Tage weiter seit Ludwigs Verurteilung. Der diensthabende Wachtmeister im Polizeigefängnis reißt an der Glocke. Ein gellender, brutaler Lärm zerreißt die lastende Stille des schlafenden Gefängnisses. Dann durcheilt der Beamte die Korridore: „Aufstehen! Aufstehen!“ Er läßt die Kalfaktoren aus ihren Zellen und schließt jetzt Zelle nach Zelle auf, damit die Kalfaktoren den Häftlingen frisches Wasser bringen können. Der neue Tag hat begonnen.
    Ludwig will seine Wasserkanne hereinnehmen, da kommt ein Beamter aus der Kanzlei zu ihm: „Halten Sie sich bereit. Um neun Uhr werden Sie von einem Transporteur abgeholt.“ „Wohin?“ „Nach H., in die Erziehungsanstalt.“ Dann ist Ludwig wieder allein. Also wieder nach H.? Selbst diese wenig frohe Nachricht pulvert Ludwig auf. Endlich raus aus dem Gefängnis. Eine zehnstündige Bahnfahrt, weit weg von Berlin zwar, aber Abwechslung, Abwechslung in dem ewigen Trott der letzten Monate. Alles andere wird sich finden. Alt wird er nicht in H., das steht fest. Er beeilt sich mit dem Anzug, wienert an seinen Schuhen herum, bürstet und richtet her, bis die Kalfaktoren mit der verdächtigen Kaffeebrühe und dem Kanten Karo einfach kommen. Der ewige Hunger des wachsenden Körpers macht kurzen Prozeß mit dem trockenen Brot, die großen festen Zähne haben nicht lange zu tun. Ludwig sitzt marschbereit auf dem wackligen Schemel und horcht nach draußen, wie ein eingesperrter Hund. Er ist aufgeregt, hat rote Backen und glänzende Augen, wie lange nicht. In einer halben Stunde ist er schon draußen …, geht auf dem Alexanderplatz.Mit dem Transporteur allerdings. Von fern kann er dann die Münze sehen, vielleicht sieht er sogar einen Bekannten. Da kommt ihm plötzlich etwas in den Hals: ob der Transporteur ihn fesseln wird, bis sie im Zug sind? Das läßt er sich nicht gefallen! Nee, auf keinen Fall! Es wird geschlossen an Ludwigs Zellentür. „Sind Sie fertig?“ In der Aufnahmezelle erhält Ludwig den ihm abgenommenen Inhalt seiner Taschen zurück. Den Bleistift, das kleine Messer, die Zigarettenspitze, die Streichhölzer und das kleine Notizbuch. Dann muß er unterschreiben, daß ihm alles richtig ausgehändigt worden ist. Im Hammelstall soll er auf den Transporteur warten.
    Durch eine Luftklappe hört Ludwig den brausenden Lärm des Alexanderplatzes, Schritte klappen vorüber, Stimmen fluchender Chauffeure, Lachen eilender Büromädels und das monotone Anbieten der Morgenzeitungen. Das Herz klopft ihm bis zum Halse, seine Hände zittern und sind schweißnaß vor Aufregung. Gleich ist er draußen, gleich. Er sieht zu den Kanzleibeamten hinüber. Gleichmütige brave Männer sitzen vor ihren Pulten und bearbeiten Akten, Akten, Akten. Gefängnis, Einsperren ist ihr Beruf, ihre Atmosphäre. Sie sperren ebenso gern ein, wie sie wieder freilassen. Rein oder raus, es läßt sie kalt, die Akten haben zu entscheiden.
    Ein kleiner Mann kommt eilig in die Kanzlei. Kurze stämmige Beine in verrutschten Wickelgamaschen, der runde Oberkörper in einer warmen Joppe. Das freundliche rote Gesicht mit dem ewig aufgeregt wackelnden Zwicker sieht so unpolizeilich wie nur möglich aus. Er übergibt seine Papiere, die ihn alsTransporteur des

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