Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
sich. „Heute wer ich woll bei die schlesische Olga gehn, die nimmt nur vier Groschen.“ „Kann ich da auch schlafen? Hab auch keine Bleibe.“ „Na klar, Mensch.“ „Wo können wir bleiben, wenn hier geschlossen wird?“ fragt Willi weiter. „Och, da gehn wir bis halb neune studiern inne Stadtbibliothek. Da is es auch warm. Da kannste Zeitung lesen und Romanbücher, hast einen Stuhl und schön hell is es auch.“ — Um drei Uhr, als die Wärmehalle geschlossen wird, geht Willi mit seinem neuen Freund, der auch Willi heißt, in der Stadtbibliothek studieren.
Der Bibliothek im ehemaligen Marstallgebäude ist ein Zeitungslesesaal angegliedert, dessen Benutzung jedem frei steht. Im Winter erfreut sich der Lesesaal so großer Beliebtheit, daß sehr oft wegen Überfüllung zeitweilig geschlossen werden muß. Hier ist es behaglich warm. Der hohe weiße Saal strahlt Licht und Sauberkeit. Alle Wände sind eng mit Zeitungen behängt. Ein Aufsichtsbeamter sorgt dafür,daß der Charakter einer Nachmittagswärmehalle nicht zu offensichtlich wird. Eingeschlafene werden mit vorwurfsvoll tippendem beamteten Zeigefinger auf das Verwerfliche ihres Verhaltens hingewiesen. Der also Gebrandmarkte bekommt je nach der Dickfelligkeit einen roten Kopf und vertieft sich mit dreifachem Eifer in den Fortsetzungsroman der Zeitung. Der kleine Willi kennt sich hier aus. Er holt den Simplicissimus und die Jugend , und dann schmökern sie. Willi Kludas fällt es schwer, wach zu bleiben. Er sehnt sich nach einer Matratze der schlesischen Olga.
Punkt acht Uhr fünfundvierzig Minuten mahnt der Aufsichtsbeamte zum Weghängen der Zeitungen. Einige Minuten später stehen viele der Leser in der stillen Breiten Straße und wissen nicht, wohin. Eine qualvolle Nacht planlosen Umherirrens liegt vor ihnen. Bis um sieben Uhr die Wärmehalle in der Ackerstraße den bereits Harrenden die Tore öffnet.
Die schlesische Olga ist Inhaberin einer Kellerwohnung im Osten Berlins. Zwei Hinterräume hat sie als wenig komfortable, aber billige Herberge eingerichtet. Wenn man die Auslegung einiger Strohsäcke in sonst leeren Räumen als Einrichtung bezeichnen darf … Aber was soll die Schlummermutter für vier Groschen mehr bieten? Der kleine Willi führt den älteren Kameraden in einen der typischen stinkenden Höfe, wie Berlin sie zu Tausenden aufzuweisen hat. Feuchtkalter Fäulnisgeruch umweht sie, als sie die ausgetretenen Stufen abwärts steigen. Die schlesische Olga sitzt neben ihrem Küchenherd undstopft und stichelt an Männerhosen herum. Hosen ihrer Schlafburschen. Wann sollte die Kleidung genäht werden, wenn nicht jetzt? Jetzt, wo die Träger der Hosen unter eine dreckige Decke schlafen gekrochen sind.
Hat ein Schlafbursche die nötigen vier Groschen durchaus nicht zusammen bringen können, läßt Olga dann und wann ein Wort mit sich reden. Aber nur, wenn der Junge ihr gefällt … Aber Olga ist nur noch ein Haufen rasselnder Knochen. Ihre Nachgiebigkeit in bezug auf das Schlafgeld ist deshalb sehr gefürchtet bei den Jungens. Selten traut sich einer ohne Geld in die Herberge, er weiß, was ihm blüht … „Abend, meine Kinderchen“, begrüßt Olga zierlich die beiden Jungen und kriecht mit den schwachen Augen auf die zerwetzte Hose zurück. Jeder zählt seine vier Groschen auf und kann sich dann ohne weitere Präliminarien einen Platz zum Schlafen suchen. In den Schlafräumen funzelt ein erbärmliches Petroleumlämpchen. Auf den schmutzigen Tapetenresten an den Wänden wuchert und gedeiht der Schwamm, und scharfe Augen sähen auch in Höhe der Strohsäcke unzählige eklige Blutflecken von zerquetschtem Wanzengetier.
Burschen, Männer und Greise liegen zusammengekrümmt auf dem Lager und verschlafen den Jammer ihrer Existenz. Burschen, aus deren schlafoffenen Mündern noch Milchzähne glänzen. Männer, deren gesunde Arme sich ein besseres Lager erarbeiten könnten. Greise, deren erbarmungswürdige Hinfälligkeit ein besseres Lager verdient hätte. Betrachtet nur die Winterkleidung jenes Siebzigjährigen!Die Füße stecken nackt in viel zu großen zerrissenen Schuhen. Die Hose zu reparieren, mag Olga wohl abgelehnt haben. Ein mit Stricken und Sicherheitsnadeln zusammengehaltenes Lumpenstück verdient den teuren Zwirn nicht mehr. Als Hemd trägt der Alte einen zerfressenen zundermürben Sweater. Auf der Brust steht in forschen Buchstaben Mifa, eine Fahrradmarke. Ein mitleidiger Radfahrer hat dem Alten wohl den Sweater geschenkt. Das Jackett fehlt
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