Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
gesucht, im Fahndungsblatt stehen doch allein von ihrer Clique fünf Jungen, nur, weil sie aus der Fürsorge geflüchtet sind. Da hätten die Behörden viel zu tun, wenn sie wegen eines geflüchteten Zöglings einegroße Aktion in Szene setzen würden. Man braucht sich ihnen ja nicht gerade auf die Nase zu setzen … — —
Morgens sieben Uhr wird Willi Kludas von dem kleinen Willi geweckt. „Det hat mächtig jeschneit. Komm, wir jehn nach die Straßenreiniger, da wern immer Helfer anjenommen, wennt jeschneit hat.“ Im Nu ist Willi munter. Während des Ankleidens würgt er an den von gestern übriggebliebenen Schrippen und gibt auch seinem Kameraden ab. In der Küche stecken sie ihre Köpfe unter die Wasserleitung, die schlesische Olga stiftet großmütig einen Fetzen zum Abtrocknen. Dalli, dalli, mahnt der kleine Willi. Jackett an, Kragen hoch und Mütze auf. Los, Willi. Auf dem Hof bleibt der Kleine plötzlich in dem Schneematsch stehen: „Ja, hast du denn ooch Papiere, die mußte abgeben?“ Papiere? Aus, Willi Kludas. Papiere geben sie einem ja nicht mit in der Anstalt, wenn man türmt. Denn jeh ick ooch nich, will der Kleine eben aus lauter Kameradschaft sagen; da kommt ihm eine Idee.
Er kann gar nicht sprechen vor beglückter Aufregung. „Du hast doch noch zwei Groschen, nich? Da koofen wir einen Besenstiel for, und ’n Kistendeckel muß der Fritze uns zujeben … Denn nageln wir bei Olga einen Schneeschieber, und een Beesen, so’n ganz ollen, hat Olga ooch. Und denn, Willi, jehn wir in die Geschäfte: ,Schön guten Morgen, Ihr Trottowahr sieht ja vaboten aus. Da falln die Kunden ja wie die Fliegen auf die Neesen. Könn’n wir nich sauber machen for ein kleinet Trinkgeld?‘ … Und sollste sehn, Willi, nachmittags ham wir ein paar Mark verdient. Fein, nich?“ Sie sausen in das nächste Seifengeschäft. Ein Besenstiel macht fünfzehn Pfennig und den Deckel einer Seifenkiste gibt es gratis.Die schlesische Olga wird gestreichelt und getätschelt, bis sie einen alten Besen und ein paar Nägel herausrückt. Im Nu ist der Schneeschieber zusammengebastelt und die beiden Willis flitzen los.
In die Breslauer Straße. Gerade die richtige Zeit. Die Geschäftsleute öffnen ihre Läden und sehen, noch etwas bettfaul, die matschige Bescherung vor dem Laden. Im dritten Geschäft klappt es. Ein schmächtiges Konfitürentantchen. Willi Kludas weiht den Schieber ein, der Kleine kratzt mit dem Besen hinterdrein und läßt sich im Laden Asche zum Streuen geben. Nach einer halben Stunde ist der Schmutz beseitigt, und Tantchen zahlt jedem dreißig Pfennig und eine Tüte Bonbonabfall. Das Handgeld ist gemacht. Der Milchkeller nebenan wird auch gleich mitgenommen. Kleines Stückchen nur, macht für beide dreißig Pfennig. Da drüben, das große Putzgeschäft aber hat keine drei Groschen übrig und schickt das blutarme Lehrmädchen auf die Straße. Weiter, Willi. Hier klappt es, dort nicht. Hier ist schon gesäubert, dort redet man sich wegen eines Groschens die Zunge fusselig.
Nach fünf Stunden, die Jungen stecken hoch oben in der Frankfurter Allee, wird das Geschäft schwieriger. Überall glänzen saubere Trottoirs. „Feierabend, Willi?“ „Ick gloobe ooch, Willi.“ In einer billigen Speiseanstalt wird zu Mittag gegessen. Richtiges warmes Essen, mit Suppe und einem Happen wabbligen Puddings. Dann kommt der Kassensturz. Nach Abzug des Essens bleiben für jeden vier Mark und einige Groschen. So viel Geld hat Willi Kludas seit Jahren nicht besessen.Bei der schlesischen Olga stellen sie ihr Werkzeug unter. Wer weiß, vielleicht ist morgen wieder Schnee. Olga wird mit einer Tüte Bonbonabfall beglückt, und hier sind zweimal vierzig Pfennig Schlafgeld für heute nacht.
Wie anders sieht doch Berlin aus, wenn die Fäuste in den Taschen sich um etwas Geld ballen! Auch wenn es nur vier Mark sind. Mit strahlenden Augen geht Willi Kludas neben seinem Kumpel durch die Straßen. Sie sind satt, haben Zigaretten, das Schlafgeld ist bezahlt und außerdem klimpert es noch in der Tasche. „Du, wolln wir nich in ’n Kientopp gehn?“ fragt der Kleine, „in ’ne Münze, bei Pritzkow kost es nur vier Groschen.“ — Das Tageskino Pritzkow in der Münzstraße ist nicht nur Kino, wo Wildwestdramen und Kriminalschmöker gezeigt werden. Es ist auch Wärmehalle und Schlafstelle für solche Begüterten, die die vier Groschen Eintritt erlegen können. Für vier Groschen kann jeder von morgens zehn Uhr bis abends elf Uhr sitzenbleiben,
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