Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
sich das Programm zum sechsten Male vorführen lassen oder auch schlafen. Wie es ihm beliebt. Man zahlt, im Jargon der Stammgäste, auch nicht simples Eintrittsgeld, um nach zwei Stunden wieder zu gehen. Bei Pritzkow zahlt man Schlafgeld und bleibt entsprechend lange sitzen. Knüppeldickevoll ist das handtuchschmale Theater zu jeder Tageszeit. Dicht an dicht sitzen die Jungen und Burschen, starren teils interessiert, teils bereits gelangweilt auf die mißtönende Leinwand oder sitzen schon ihr Schlafgeld ab. Sanft an den Nachbarn, auf des Vordermannes Stuhlrücken gelehnt oder gesenkten Kopfes die Westenknöpfe zählend.
Offenen Mundes sieht Willi Kludas auf die Leinwand. Für ihn ist diese bescheidene Vorführung ein Wunder. Von Tonfilmen hat er überhaupt noch nichts gehört, und diese Mädels da auf der Leinwand … wie die gebaut sind … wie alles hüpft an ihnen, wenn sie gehen … Wie sie sich auf die schicken Kavaliere werfen und sie abknutschen … verdammt! Und die süßen Stimmen, wenn sie singen … wie sie die kurzen Röcke werfen beim Tanzen! Willi Kludas rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her, sein Gesicht glüht, und seine schweißnassen Finger zerren aufgeregt aneinander. Mit so einem Mädel mal zusammen sein … so ein Mädel mal sehen, wenn … In der Pause fragt er den Kleinen zögernd, ob er schon einmal ein nacktes Mädchen gesehen habe. Er so richtig noch nie. Wo auch? Mit sechzehn Jahren brachten sie ihn in die Anstalt. Da hat einer eine ganze Menge Photographien gehabt von nackten, dicken Frauen. Die Karten hat der Junge abends im Schlafsaal ausgeliehen an die Kameraden. Für Zigaretten, ein Stück Wurst oder die Fleischration vom Mittag. Dann gingen die Jungens mit den Bildern an das Fenster, um sie genauer betrachten zu können. Halbstundenlang standen sie dort und blickten auf die photographierte Nacktheit, und nachher im Bett … na ja, was soll man machen. Und der Otto Kellermann, ein ganz junger, mit hellblonden Haaren und weicher, weißer Haut wie die eines Mädchens, nannte sich Ottilie, und wer Ottilie haben wollte, mußte auch blechen …
Bei dem kleinen Willi war das alles ganz anders. Seine Pubertätsjahre wurden vergiftet durch die eigene Mutter, die sich im selben Zimmer, wo Willi schlief, den Männern hingab. Durch die Mieterinnen, die auch ihre Kunden in das Zimmer brachten und manchmal betrunken an Willis Bett kamen: „Na, Williken, Jugendstil, nu biste ooch bald so weit … laß doch mal, Williken … Süßer, halt doch mal stille, mein Bubi …“ Das Mysterium, das Willi Kludas mit seinen zwanzig Jahren nur von dreckigen Bildern und obszönen Reden der Kameraden kannte, offenbarte sich dem dreizehnjährigen kleinen Willi unter noch gemeineren Umständen.
Sie verlassen das Kino und gehen wieder auf die Münzstraße. Willi Kludas guckt jedem der käuflichen Mädchen unter den Hut, und wenn ihn eine Anrede trifft, ein eingelerntes Lächeln, wenn Brüste und Hüften sich prahlend anpreisen, dann kribbelt in ihm ein wollüstiges Fieber, das ihn siedendheiß durchströmt, den Hals trocken und die Beine schwach macht. Seine feuchten Hände in den Hosentaschen fühlen das Geld … Mit ihm könnte er eines der Mädchen besitzen. Aber er schämt sich vor dem Kleinen. Wenn er allein wäre, würde er nicht widerstehen können. Wäre er doch nur allein … „Was machen wir nu?“ fragt der Kleine. „Können wir nicht hingehen, wo viel Mädels sind?“ ist Willis Gegenfrage. „Rummel?“ schlägt der Kleine vor. „Sind da welche?“ „Na, Mensch, so viel du willst … hinter de Toilettenbude vor fuffzig Pfennig“, lautet die sachkundige Antwort.
S chlesischer Rummel an der Schillingsbrücke. Vergnügungsdorado aller berlin-östlichen Cliquen. Schauplatz täglicher Eifersuchtskämpfe um die Liebsche. Berlins grauenhaftester Strich, Schulmädchen, eben Schulentlassene. Preis: Fünfmal Luftschaukel, Reiten im Hippodrom, oder Eiswaffeln bzw. Kartoffelpuffer, je nach der Jahreszeit. Die Fortgeschritteneren dieser kindlichen Prostituierten nehmen nur Bargeld in Zahlung. Ort der Handlung: Hinter der Toilettenbude. Mütze keß im Nacken, so daß vorn die Haare hervorquellen, Zigarette im äußersten Mundwinkel nehmen die Männer zwischen vierzehn und zwanzig die Parade der Weiber zwischen zwölf und achtzehn ab. Blicke, und nicht nur Blicke, tasten die Körper ab, deren Trägerinnen dankbar und geschmeichelt das ihre tun, damit nichts unter dem Scheffel bleibt.
Vor der
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