Blutsbrüder
ein Tropfen Blut im Mundwinkel, aus seinem Sarg erhebt, steif und ruckend aufrichtet und die Wartenden auffordert, näher zu treten und einzusteigen, Familien am Kinderkarussell mit einer scheppernden Feuerwehr und Holzpferden, denen mitunter ein Huf fehlt, ein kreisender, krakenähnlicher Apparat, der Tarantella heißt und neben dem sich ein Betrunkener übergibt, letzte Würfelbuden, kaum besucht, Gedränge beim Schießen, deutsche Männer in abgetragener Motorradkluft, mit violetten Tränensäcken und langem, fettigem Haar, die Frauen und die Söhne tragen Militärhosen und an der kurzen Leine läuft ein Dobermann oder ein Rottweiler, meist besser genährt als die Besitzer, Hunde, die selten bellen und stetig sabbern und unangenehm lauernd die kupierten Ohren anlegen und dabei hin und wieder knurren, der Automat mit dem Punchingball, an dem sich die türkischen und die arabischen Jungs Wettkämpfe liefern, bis die blecherne Stimme vom Band nachdrücklich nölt: »Du bist der Champion!«, die Polizeipatrouillen, die Hände liegen geschützt durch Handschuhe am Griff der Tonfas oder Gummiknüppel und die Augen der Männer, manchmal auch der Frauen blicken niemanden an.
»Orient«, sagt Alina.
»Fast.« Cora nickt.
Und dann stürzen sie sich ins Geschehen.
Darius spendiert Alina eine Maxiportion Zuckerwatte und erhält als Dank einen kurzen Kuss. Er fährt mit Tomtom Autoscooter, rammt, was sich ihnen in den Weg stellt, sitzt neben Hakan und Alina in einer furchtbar nassen Wasserrutsche, sieht Hakans Blick, als er Alina zärtlich die feuchten Haare aus dem Gesicht streift, bemerkt einen Ausdruck in den Augen des Freundes, den er so noch nie wahrgenommen hat. Denkt: Das ist Hakan? Hakan, der Toughe? Ist eifersüchti g – und zugleich froh für den Freund, traurig und glücklich im selben Moment. Fährt danach eher mit Tomtom, mit Simon, manchmal mit Marvin: Achterbahn, Tarantella, die ihm den Magen beinahe umstülpt. Fährt vor allem Autoscooter, ein ums andere Mal, ohne Vorsicht, ohne Rücksicht, und merkt: Heute umgibt uns eine Aura, eine unsichtbare Hülle, die uns schützt, die uns über allem schweben lässt, fast unerkannt für die, die wir versehentlich anrempeln, nicht fassbar für jene, zwischen denen wir uns hindurchdrängen, geachtet von den breiten Jungs mit Sonnenbrille, Kampfhund und leicht schaukelndem Gang.
Heute, denkt Darius, sind wir unverwundbar. Weil wir zusammengehören.
Nach einigen Stunden verabschiedet er sich ausführlich von den anderen, betrachtet noch einmal genau die Gesichter von Hakan und Alina, die ihn nicht bemerken, weil sie nur aufeinander achten, lächelt, wenn auch melancholisch, und drängt sich seitlich aus dem Gewühl, um, wie beinahe jeden Abend, in der WG anzurufen, in der er vielleicht ein Zimmer bekommen kan n – und wo er seit Tagen keinen erreicht. Jeder vergebliche Anruf steigert Darius’ Unruhe. Jedes Mal spürt er den Wunsch, von seinem Vater wegzukommen, drängender. Und jedes Mal hofft er, die Tage bis zu seinem Geburtstag mögen rascher vergehen.
Als Darius aus einem Gebüsch, in dem es nach Urin riecht, auf einen Parkweg tritt, findet er sich unvermittelt in einer Situation, die nichts mehr mit der Ausgelassenheit des Rummels und der Gelöstheit seiner Freunde zu tun hat.
Umringt von einer Gruppe Jugendlicher, zwischen denen Darius die arabischen Jungen, den größeren und den kleineren, der gestrigen Nacht erkennt, steht nahe einem Mülleimer aus grauem Metall eine jüngere Frau mit langem, strähnigem, schlecht blondiertem Haar, die einen Schäferhund an der Leine hält.
Der Hund ist alt und statt zu bellen gibt er ein heiseres Geräusch von sich, sodass die Jungen, die dennoch vor ihm zurückweichen, lachen und kleine Stöcke oder Dreck nach ihm werfen. In dem klebrig wirkenden Mülleimer hockt ein vielleicht elfjähriger Junge, den jemand mit dem Gesäß so in die Öffnung des Eimers aus Eisen gedrückt hat, dass er aus eigener Kraft nicht mehr herauskommt. Der kleine rothaarige Junge, dem der Rotz aus der Nase läuft, heult und versucht sich vergeblich zu befreien.
Dabei weint er nicht laut, sondern greint eher, während die Frau, offenbar seine Mutter, unablässig vor sich hin flucht und nicht weiß, ob sie ihrem Sohn helfen oder besser ihren Hund festhalten soll, um ihn daran zu hindern, nach einem der Jungen zu schnappen. Dann, das weiß auch Darius, werden alle anderen den Hund treten, bis er sich nicht mehr bewegt.
Noch unschlüssig, wie er
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