Blutsbrüder
legt. Darius rammt ihm den Nagel mit aller Wucht in den Handrücken, obwohl er merkt, wie sich dessen abgebrochenes Ende in die eigene Handfläche gräbt. Für Momente meint er, die Spitze des Nagels ritze seine eigene magere Schulter und der gezackte Bruchrand zerreiße zugleich seine rechte Hand.
Emre, der Chef, schaut dem Vorgang verblüfft und beinahe bewundernd zu. Respekt, scheinen seine Blicke zu sagen, während Haka n – Darius registriert es aus dem Augenwinke l – im Hintergrund verhalten grinst.
Der dicke Türke brüllt. Für den Bruchteil einer Sekunde ist er abgelenkt. Ebenso wie seine grobschlächtigen Freunde.
Lang genug für Darius, um mit dem Ball, der ihm, dann nicht mehr ihm, dann wieder ihm gehört hat, und einem blutenden Handballen durch das Loch im Maschendraht auf einen Hof zu verschwinden, der zu einer lang schon leeren, verwinkelten Fabrikanlage führt, deren Verstecke niemand besser kennt als er.
Doch Emre und die anderen lauern ihm wenige Tage nach dem Zwischenfall mit dem Nagel auf und nehmen ihm den Ball wieder ab. Der dicke türkische Junge, dessen Name Darius weder kennt noch kennen möchte, der Cousin, der Whopper mit der Narbe, trägt nach wie vor einen Verband um die rechte Hand. Wahrscheinlich nur, um in der Schule nicht schreiben zu müssen, denkt Darius, während Emres kleiner Bruder, Ömer, vor ihm auf- und abspringt und nach seinen Beinen tritt, bis ihn Emre sanft beiseiteschiebt.
»Pass auf«, sagt Emre. »Das mit dem Nagel war nicht schlecht. Fast cool«, fügt er hinzu, während der Cousin, den Ball unter der Achsel, ein wenig entfernt am Zaun lehnt und unwillig zischt und ausspuckt.
»Wir könnten dich jetzt fertigmachen.«
Emre tritt von einem Fuß auf den anderen, während Darius verwundert spürt, dass er keine Angst empfindet, nur eine seltsame Ruhe, ähnlich wie vor dem Trick mit dem Nagel, als ginge ein kühler Wind durch seinen Körper.
»Fett fertigmachen«, säuselt Ömer und der Cousin am Zaun deutet mit der linken Faust einen kurzen Schlag an.
Die anderen aus der Gruppe, drei oder vier weitere, grinsen oder lachen oder deuten ebenfalls Faustschläge an, die sie mit Bemerkungen wie »Isch so« und »Isch dann so« kommentieren.
Nur Hakan hält sich wie immer etwas entfernt von der Clique, steht am Rand und scheint unbewegt zu warten, was geschieht.
Darius sieht ihn häufig in der Schule auf dem Hof. Im Gegensatz zu Emre, der Darius während des Vormittags einfach übersieht, nickt ihm Hakan manchmal zu, grüßt ihn, und Darius grüßt stumm zurück, auf unbestimmte Weise froh.
»Machen wir aber anders«, sagt Emre. »Lattenschießen. Du gegen uns. Fünfzig Schüsse. Wenn du verlierst, kriegen wir den Ball, jede Woche fünf Euro und der Platz ist für dich gesperrt, hm?«
»Was ist, wenn ich nicht will?«, murmelt Darius, so leise, dass ihn Emre kaum verstehen kann.
»Tja.« Emre zuckt die Schultern, während die anderen lachen, dreckig und laut.
Ein Mann werden, denkt Darius. Während er mit gesenktem Blick seine Chancen abwäg t – fünfzig gezielte Schüsse an die Latte, das ist allein unmöglich zu schaffe n –, setzt Emre gönnerhaft hinzu: »Kannst ein’ von uns fragen, ob er dir hilft. Wenn er’s will, isch schwöre, schießt er mit dir.«
»Isch nisch!«, brüllt Ömer.
Der Whopper mit der Narbe grunzt zufrieden.
Darius hebt den Kopf. Unwillkürlich fixiert er Hakan und deutet ohne nachzudenken auf ihn, nennt leise seinen Namen und sieht, wie Hakan nickt, ohne zu zögern.
Emre guckt Hakan giftig an und seine Augen sagen unmissverständlich: Lass dich nicht mehr bei uns blicken, du Verräter.
Aber er beherrscht sich und hält Wort. »Okay.« Der Widerwille lässt ihn die Silben ausstoßen wie eine Drohung. Verächtlich mustert er Hakan, der sich neben Darius an den Elfmeterpunkt stellt.
Darius schaut in das Gesicht des Kaugummi kauenden Cousins und eine große Gelassenheit erfüllt ihn. Wir müssen gar nicht erst anfangen, denkt er: Ohne Hakan ist Emre chancenlos.
Und weil auch Emre das weiß, nimmt er dem Dicken den Ball ab, lässt ihn fallen, nickt wie in Gedanken, sieht Hakan noch einmal lange an und nuschelt: »Du machst einen Fehler. Einen riesigen Fehler. Aber wir sprechen uns noch.«
Seit der Entscheidung auf dem Bolzplatz sind einige Wochen vergangen. Hakan spielt nachmittags nicht mehr mit Emre und dessen Freunden auf dem Bolzplatz Fußball. Manchmal unterhält er sich auf dem Schulhof kurz mit Darius, der keine Freunde
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