Blutsbrüder
Fenster des Taxis hört er das matte Fluchen des Whoppers, das hektische Zetern des Obststandbetreibers sowie die Rufe und das Gelächter einiger Passanten.
Nachdem Tomtom in der Notaufnahme verschwunden ist, kommt erst einmal lange niemand, der ihnen sagt, was mit dem Freund passiert.
Während die Zeit vergeht, eine Minute nach der nächste n – Darius beobachtet stoisch den Sekundenzeiger einer Uhr, die ihm gegenüber an der Wand häng t –, sitzen Alina und er schweigend auf einer weiß lackierten Bank. Nur einmal sagt Alina leise: »Tomtom hat nur Hallo sagen wollen, dann kam dieser Typ.«
Schließlich erscheint der Arzt und erklärt ihnen mit einer nachtdienstmüden Stimme, dass Tomtoms Nase gebrochen und ein Schneidezahn abgebrochen sei und dass er wahrscheinlich auch einen Rippenbruch erlitten habe. Seine Eltern seien benachrichtigt. »Aber«, fügt der Arzt hinzu, »es wäre nicht schlecht, wenn ihr hier noch etwas warten könntet.«
Mit diesen Worten verschwindet er in einem der Behandlungszimmer und Alina und Darius sind wieder allein.
Schließlich richtet sich Alina auf, dreht ihren Kopf, den sie bisher in die Hände gestützt hatte, in Darius’ Richtung und sagt beklommen: »Danke.«
»Schon gut«, entgegnet Darius.
»Nein, nein.« Alina schaut ihn an. »Das war schon ziemlic h … ziemlich höchste Eisenbahn. Der Typ war so was von bedröhnt. Abe r … aber, ich mein e …«
»Was?«, fragt Darius leise.
»Na ja, hm, ich mein e … warum kannst du so was eigentlich so gut?«
»Du meinst: mich prügeln, mich schlagen?«
Alina zuckt die Schultern.
»Ja.«
»Keine Ahnung. Ich kann es, seit ich klein bin. Ist so, wie du es einmal beim Fischesezieren gesagt hast: Ich werde innerlich kalt. Ich empfinde keine Angst, habe keine anderen Gefühle. Keine Furcht, kein Mitleid, gar nichts. Ich sehe, was passieren wird. Ich sehe, was ich tun muss. Und danach tue ich es.«
»Und dabei«, fragt Alina ungläubig, »tun dir die, die du zusammenschlägst, wirklich kein bisschen leid?«
»Nein.« Darius überlegt. Die Leuchtstoffröhren im Krankenhausgang kommen ihm übermäßig grell, beinahe beißend vor.
»Nein. Sie sind wie Dinge. Wie Dinge, die ic h … die ich auf eine gewisse Art handhaben muss, verstehst du?«
Alina schüttelt den Kopf.
»Die Entscheidung ist früher gefallen, als ein Gefühl einsetzen könnte.« Darius schaut sie an, als wollte er sie hypnotisieren, als könnte er sich ihr so besser verständlich machen.
»Verstehe ich nicht«, sagt Alina. »Überhaupt keine Gefühle?«
»Nein.«
Darius hebt die Achseln. »Doch. Doch, es gibt ein Gefühl, das ich seit Langem empfinde, wenn ich mich schlagen muss.«
»Nämlich?«
Beinahe wirkt es, als sei Alina froh. Sie sieht erleichtert aus, als sie den Kopf dreht und Darius direkt ansieht.
»Ich empfinde, meist schon davor, einen Ekel«, sagt er leise, »einen Ekel vor mir selbst. Manchmal ist es sogar wie ein Würgen im Hals.«
»Und du tust es trotzdem? Warum?«
»Weil ich weiß, dass es notwendig ist. Weil ich alles so genau vor mir sehe.«
Unwillkürlich rückt Alina einige Zentimeter von Darius ab, als habe er eine ansteckende Krankheit, und senkt den Blick zum gefliesten Boden.
»Du tust mir leid«, sagt Alina. Sie sagt es mit einer derart dünnen Stimme, dass Darius nicht anders kann, als nach ihrer Hand zu greifen, die sie ihm zögernd entzieht.
»Danke für dein Mitgefühl. Abe r … ich werde mich nicht mehr schlagen.«
Kaum dass ihn Alina mit einem Stirnrunzeln fixier t – kurz scheint es, als wolle sie ihn doch noch vorsichtig berühre n –, stößt Hakan die Tür zum Klinikgang auf und stürmt auf die beiden zu.
Ohne Darius zu begrüßen oder nur zu beachten, ohne eine Geste des Dankes, zerrt er Alina beinahe grob von der Bank hoch, gibt ihr einen verunglückten Kuss und murmelt: »Komm, lass uns gehen.« Hastig fügt er hinzu: »Hab schon Tomtoms Eltern auf dem Parkplatz getroffen. Kannst mir nachher genauer erzählen, was passiert ist.«
Ohne ein Wort zu Darius oder wenigstens einen Blick zieht er Alina, die sich für die Länge eines Wimpernschlages zu Darius umgeschaut und dabei die Augenbrauen entschuldigend gehoben hat, den Gang entlang hinter sich her in Richtung des anderen Ausgangs.
Obwohl erschrocken, ist Darius weniger bestürzt als nach der letzten Unterhaltung mit Hakan, die kaum einige Stunden zurücklieg t – und die ihm dennoch vorkommt, als gehöre sie zu einem anderen Leben.
Darius versucht
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