Blutsbrüder
sich zu sammeln, ohne dass es ihm gelingt.
Während er überlegt, was er als Nächstes tun soll, denkt er wieder und wieder, die Sätze drehen sich in seinem wie ausgehöhlten Schädel: Was ist bloß aus Hakan und aus mir geworden? Was ist bloß schiefgegangen? Was?
VORGESCHICHTE
6
Darius ist zwölf Jahre alt. Weil sich sein Vater seit einer Weile oft schon an den Nachmittagen betrinkt, muss ihn Darius nicht selten aus einer Kneipe abholen und nach Hause bringen. Wenn Darius seinen Vater hilflos neben dem Lokal an der Fassade lehnen sieht, schneidet ihm der Anblick ins Herz, obwohl ihn der betrunkene Vater häufig genug verprügelt.
Als ihn Hakan einmal auf seine geschwollene Lippe anspricht, erzählt Darius stockend, wie oft sein Vater ihn schlägt. Auf die Frage des Freundes, ob ihm seine Mutter nicht helfe, schweigt Darius. Schweigt, bis Hakan unwirsch meint: »Du musst trainieren. So lange, bis du stärker bist als er.«
Ich weiß nicht, denkt Darius und schüttelt unmerklich den Kopf. Dennoch ist er froh, dass sich der Freund für ihn, für sein Zuhause interessiert, das Darius nur selten wie ein Zuhause vorkommt.
Es sind das Frühjahr und der Sommer, die Darius und Hakan gemeinsam verbringen, Monate, in denen sie unzertrennlich sind. Sie erkunden die Stadt, streifen durch das Viertel, vermeiden es, auf Emre und dessen Gefolgschaft zu treffen, gehen dem narbigen Whopper und dessen Freunden aus dem Weg.
Es ist eine unbeschwerte Zeit, in der sie, als die Ferien beginnen, morgens kurz frühstücken, einander anrufen, einen Treffpunkt vereinbaren, durch die Parks und über die Friedhöfe der Umgebung streifen, ein Eis essen, reden oder nicht reden, zusammen zum Fußballtraining fahren, spielen und meist gewinnen. Die Welt scheint klar und offen, trotz Darius’ Vater. Es ist ihr Sommer in der Stad t – viel schöner, als wären sie in den Urlaub gefahren.
Eines Tages fragt Hakan, indem er plötzlich stehen bleibt und Darius an der Schulter festhält: »Hast du eigentlich mal auf die Schaukeln geachtet? Die schwarzen, die aus Hartplastik, die auf den Spielplätzen hängen und so angeknabbert aussehen?«
»Ja. Und?«
Darius stößt mit dem Fuß nach einem Steinchen.
»Das sind Bisse von Hunden, die kämpfen und an den Schaukeln trainieren.«
»Aha. Und?«
»Ich weiß, wo sie kämpfen. Und heute Nacht, da gehen wir da hin.«
»Ist Emre dabei?«
Darius kickt wieder nach einem länglichen Stein.
»Auf jeden Fall.«
»Wird ihm nicht gefallen.«
»De r wird uns nicht sehen. Ist ja dunkel. Außerdem hat Emre nicht zu bestimmen, was wir tun, oder?«
Als sie auf das Fabrikgelände schleichen, auf dem sich Darius früher, als Junge, versteckt hat und das in der Nähe von Hakans Wohnung liegt, fühlt Darius sich unwohl. Trotzdem ist er mitgekommen. Die Sommerwochen haben Hakan und ihn zusammengeschweißt und den einzigen Freund im Stich zu lassen erscheint ihm ausgeschlossen.
In der Dunkelheit wirkt das leer stehende Fabrikgelände gespenstisc h – völlig anders als am hellen Tag, denkt Darius, der nachts noch nie dort gewesen ist.
Sie brauchen eine Weile, bis sie den Ort entdecken, an dem der Hundekampf stattfindet. Darius und Hakan flüstern einander nur einzelne Worte ins Ohr, während sie sich geräuschlos an das Gebäude anpirschen, in dem die Kämpfe stattfinden und aus dem das Bellen seltsam gedämpft zu ihnen herüberklingt.
Als sie nah genug herangekommen sind, immer auf der Hut vor einem Wachtposten, begreift Darius den Grund.
Man kann das Geschehen gut von oben beobachten, Hunde und Menschen befinden sich in einem ehemaligen Kellergeschoss, das ein Stockwerk unter der Erde liegt. Die Decke ist teilweise eingestürzt, der vielfach geborstene Stahlbeton und ein fast undurchdringliches Gebüsch schirmen den Treffpunkt vor neugierigen Blicken ab und dämpfen die Geräusche.
»Cooler Platz«, wispert Hakan. »Richtig geil!«
Darius nickt. Dennoch hat er ein ungutes Gefühl. Nach wie vor würde er den Freund lieber auffordern, nach Hause zu gehen. Aber er weiß, dass seine Bitte zwecklos wäre, denn Hakan ist Feuer und Flamme, am liebsten würde er selbst an den Kämpfen teilnehmen.
»Wow!«, murmelt er und boxt Darius begeistert gegen die Schulter.
Ein Stockwerk unter ihnen lehnt Emre an einer Säule und lächelt überlegen, während die Hunde in einem ummauerten Viereck aufeinander losgehen und die türkischen Jugendlichen und jungen Männer den Kampf verfolgen und Geld auf die sich
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