Blutsbrüder
Räume. Zu sauber erscheint ihm alles, weshalb das ihn Bedrängende noch deutlicher hervortritt. Obwohl auch seine Wohnung nicht weitläufig ist, sind die Altbaudecken doch höher, gibt es den Balkon mit den Kaninchen, meint er, trotz des Vaters, mehr Platz als Alina zu haben. Beinahe hastig hat er sich damals verabschiedet und den Tee, den sie ihm angeboten hat, ungeschickt abgelehnt.
Jetzt sagt Alina: »Darius, wo ist der Kühlschrank?«
»Dahinten in der Küche. Warum?«
»Sieh mal nach«, sie lächelt, »ob es da einen Sekt gibt. Wir stoßen an.«
»Aber«, Darius fühlt sich ein bisschen überrumpelt, »der gehört doc h …?«
»Bring Gläser mit«, sagt Alina. »Den Sekt ersetze ich.«
Wieder staunt Darius über ihren Stimmungswechsel, aber er denkt nicht genauer darüber nach. Und wirklich liegt im Kühlschrank eine Flasche Sekt.
Als Darius aus der Küche zurückkommt, er hat eine Weile gebraucht, um passende Gläser zu finden, hat Alina eine CD eingelegt und wiegt sich zu den Takten eines langsamen Walzers. Die Augen hält sie wieder geschlossen, die Arme hat sie um ihren Oberkörper geschlungen.
Kaum dass Darius den großen, von einigen Kerzen erleuchteten Raum betritt, sagt sie, das abgebrannte Streichholz noch in der Hand: »Ein Wunde r – und darauf trinken wir!«
Sie blickt ihn an, tritt auf ihn zu, nimmt ihm die Flasche aus der Hand, öffnet sie geschickt und ohne den Korken gegen den Stuck zu schießen oder etwas vom Sekt auf das Parkett zu gießen. Sie füllt die Gläser bis zum Rand, sie stoßen an, die Gläser klingen, sie leert ihr Glas in einem Zug, Darius will ihr nicht nachstehen. Sie füllt die Gläser ein zweites Mal, stellt sie behutsam auf das Bord, fragt ihn: »Kannst du tanzen? Langsamen Walzer?«
Darius zuckt die Achseln.
»Hab nie getanzt.«
Er merkt, dass ihm der Sekt zu Kopf steigt, dass der Alkohol die Luft um ihn her weicher werden lässt, seine Bewegungen kommen ihm vor, als seien sie in durchsichtige Watte verpackt.
Auf der CD beginnt das nächste Stück. Brillant klingen die Boxen, kein Knistern, keine sonstigen Geräusche. Alina nimmt noch einen Schluck Sekt. Dann schiebt sie Darius behutsam in die Mitte des Raumes.
Sie legt seine linke Hand um ihre Taille, lässt ihn mit der rechten ihre Linke festhalten, legt ihm ihre rechte Hand auf die linke Schulter, wiegt sich mit ihm einige Takte auf der Stelle, zeigt ihm danach die Schrittfolg e – und staunt.
Staunt ebenso wie Darius, der sich ohne Mühe in den Rhythmus, die Abfolge der Schritte findet, der überrascht erkennt, dass es ihm wie beim Fußball geh t – oder wie bei einer Prügelei: Er sieht sich von außen, von oben, kann sich betrachten wie einen Fremden, den er zugleich anweist, was zu tun sei.
»Du kannst es ja«, sagt Alina.
Ihre Stimme klingt schleppend. Ihr Körper gibt nach und passt sich Darius’ Bewegung an.
Während sie tanzen, trinken sie ein Glas und noch ein weiteres, trinken, bis die Flasche und eine weitere Flasche, die sie im Kühlschrank finden, leer sind. Geschmeidig folgen sie dem Takt, gehorchen dem Drängen der Musik, sind einander nahe, näher denn je, schmiegen Wangen, Gesicht, erhitzte Haut aneinander. Als Darius’ Lippen Alinas Mund berühren, weicht sie zögernd aus und legt einen Finger behutsam auf seine Lippen.
»Wir sollten das nicht tun.« Ihr Flüstern schwebt auf den letzten Takten, füllt mit der einsetzenden Stille den von zwei Kerzen kaum erhellten Raum.
»Es tut mir leid«, haucht Alina.
»E s … es muss dir nicht leidtun«, sagt Darius und spürt, wie seine Kehle eng wird, hört, dass seine Stimme enttäuscht klingt, fühlt, dass ihn eine Woge der Traurigkeit erfasst. Gleichzeitig weiß er, dass sie Recht hat, dass er, obwohl er Alina küssen möchte, es im selben Moment auf keinen Fall will, trotz Hakans Schroffheit.
»Es ist eine fantastische Wohnung!« Schnell macht Alina sich los, schnell will sie in ihre Schuhe schlüpfen, will nach ihrer Jacke suchen, die sie ausgezogen hat, und nach ihrer Tasche greifen, die an der Garderobe hängt.
»Er ist dein Freund«, sagt sie leise, »dein bester. Und mein Freund.« Sie lächelt und wieder erscheint ihr Gesicht klein und verloren.
Doch bevor sie zur Tür eilen kann, hält Darius sie fest. Mit einer Entschlossenheit, die er sich selbst nicht zugetraut hätte, sagt er: »So nicht. Wir sollten noch was trinken gehen. Am besten einen Espresso.«
Als Darius dicht hinter Alina auf die Straße tritt, eine Straße
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