Blutsbrüder
wechselt auf das Gymnasium.
Von Beginn an kommen ihm seine Mitschüler klüger vor als er. Wenn sie reden, klingt es besonders bei den Mädchen geschmeidiger, als ihm die eigenen, sowieso seltenen Äußerungen erscheinen. Er meldet sich kaum und hat Mühe, dem Stoff zu folgen.
Außerdem trainiert er dreimal in der Woche im Fußballverein oder bei der Auswahlmannschaft. Über seine Empfindungen in der neuen Klasse nachzudenken, bleibt ihm keine Zeit, obwohl er sich in der ungewohnten Umgebung fremd und allein vorkommt.
Nur einem Jungen fühlt Darius sich seltsamerweise nah. Einem Jungen, mit dem er zwar nicht redet, den er jedoch ausdauernd und genau beobachtet und den er manchmal bewundert für dessen Zähigkeit.
Emre ist etwas später zu Darius in die Klasse gekommen und ihm scheint es noch schwerer zu fallen, dem Stoff zu folgen.
Emre meldet sich oft, aber wenn er etwas sagt, wirkt es fast immer unpassend. Fast nie trifft er mit einer Antwort die Frage. In den ersten Arbeiten schreibt er durchweg Fünfen. Dennoch gibt er nicht auf.
Auf dem Schulhof markiert er den Macho, gibt sich unnahbar, überlegen, tut so, als habe er Darius nie gesehen. Im Sportunterricht entpuppt er sich als Angeber, der alle anderen spüren lässt, wie viel besser er in annähernd jeder Disziplin ist.
Wird er gereizt, braust er auf, noch schneller als früher auf dem Bolzplatz. Zwei, drei Male schlägt er sich, ungewöhnlich für einen Schüler des Gymnasiums. Dort gilt Gewalt als unangebracht, Schlägereien sind verpönt.
Darius genießt die neue Situation, den Ort, an dem Prügeleien keine Bedeutung haben und von den Schülern verachtet werden. Nur manchmal kommt es ihm vor, als lebe er auf einer Insel, einer Art Traumland, das mit der Wirklichkeit, die er kennt, nicht viel zu tun hat.
Nach einer Weile steht Emre während der Pausen nur noch mit den drei oder vier Türken der Parallelklasse zusammen, in die er nach Abschluss der siebten Klasse wechselt. Trotzdem fühlt sich Darius ihm nach wie vor manchmal auf seltsame Weise verbunden. Vielleicht, weil sie beide am Ende der achten Klasse sitzen bleiben.
Schon mit Beginn der achten Klasse ändert sich die Situation für Darius. Weil Hakan, mit dem er trainiert, mit dem er die Punktspiele bestreitet und in die Trainingslager fährt, ebenfalls auf das Gymnasium wechselt.
Als Darius sitzen bleibt und in Hakans Klasse kommt, ist er beinahe froh. Emre, der einer anderen Klasse zugewiesen wird, verliert er bald aus den Augen. Nur manchmal sieht er ihn an den Nachmittagen wieder mit seinem Cousin und dessen Whopperfreunden durch die Gegend ziehen, einer Gruppe, die Emre nach dem Wechsel auf das Gymnasium zunächst gemieden hat.
Im Gegensatz zu Hakan fällt es Darius auch in der neuen Klasse schwer, Freunde zu finden. Und obwohl er den Stoff schon einmal durchgenommen hat, kommt es ihm auch diesmal so vor, als seien die anderen Schüler klüger als er. Als bewegten sie sich in einer Welt, zu der er keinen Zugang hat und die er als fern und einschüchternd empfindet.
Wahrscheinlich, denkt Darius, liegt es daran, dass niemand einen Vater hat, der die Tage betrunken vor dem Fernseher verbringt, der sich um keine Arbeit mehr bemüht und der es sich nach wie vor herausnimmt, seinen Sohn zu schlagen.
Neunte Klasse, Erdkundeunterricht. Die Lehrerin verteilt Referate. Jeder Schüler soll ein europäisches Land übernehmen.
Als Hakan, einer der Ersten im Alphabet, an die Reihe kommt, zeichnet sich auf dem Gesicht der Lehrerin, die weder jung noch alt ist, ein Lächeln ab, während sie freudig sagt: »Hier liegt die Sache einfach. Ich fahr da ja jedes Jahr während der Sommerferien hin. Schön dort und vor allem so überaus gastfreundlich.«
»Und«, ergänzt Hakan lustlos, nur Darius, der neben ihm sitzt, hört den Anflug von Schärfe in der Stimme des Freundes, »die Sonne scheint auch immer, oder?«
Die Lehrerin nickt.
»Das stimmt!« Beinahe jubiliert sie und Darius erwartet ein triumphierendes Juchzen, das aber ausbleibt.
»Du fährst bestimmt auch so oft hin, wie du kannst, nicht wahr?«, fügt sie treuherzig hinzu. Der Finger rutscht in ihrem Buch zerstreut zum nächsten Namen, während Hakan matt murmelt: »Wenn schon Randlage, dann aber lieber Grönland«, ohne dass die Lehrerin ihn noch hört.
Der Vorgang scheint abgeschlossen, das Referatsthema erteilt, der nächste Schüler soll Estland oder Lettland übernehmen, da meldet sich Darius, nachdem er Hakan kurz gemustert
Weitere Kostenlose Bücher