Blutschnee
Identität des rätselhaften Schützen und die Unterhaltung, die er mit Romanowski in Gegenwart des sterbenden Munker geführt hatte, verschwieg er. Ihm war klar, dass seine Darstellung nicht mit dem übereinstimmte, was andere Zeugen – namentlich Melinda Strickland, Sheriff Barnum, Elle Broxton-Howard sowie sechs Hilfssheriffs – berichteten. Als einziger Zeuge behauptete Joe, Munkers »Warnschuss« habe die Gasleitung beschädigt, und der FBI-Mann habe die Geiselnahme spontan erfunden, als er
erfahren habe, dass Spud Cargill verhaftet worden war. Den Übrigen zufolge war der Schuss tatsächlich als Warnung gedacht gewesen. Niemand sonst sagte aus, eine beschädigte Kupfergasleitung gesehen oder das Zischen von austretendem Propangas gehört zu haben. Joe glaubte nicht, dass die Mitglieder des Angriffsteams logen – immerhin hatten sie alle in Deckung gekauert und Helme getragen, die Geräusche stark dämpften; auch war keiner Brockius’ Wohnwagen und der beschädigten Leitung so nah gewesen wie er. Die Hitze des Feuers hatte das Rohr buchstäblich schmelzen lassen, so dass Joe seine Beschuldigungen nicht beweisen konnte. Dennoch hoffte er, dass seine Darstellung der Ereignisse nicht einfach abgetan wurde.
Mehrere Ermittler fragten ihn unverblümt und mit unverhohlener Skepsis, ob er nicht zu weit entfernt gestanden habe, um mit Gewissheit sagen zu können, was geschehen war, als Munker geschossen hatte. Sie mutmaßten zudem öffentlich, sein persönliches Interesse an der ganzen Sache – und seine offenkundige Abneigung gegen Dick Munker und Melinda Strickland – habe seine Deutung der Ereignisse womöglich beeinflusst. Die Kriminalpolizei von Wyoming und das FBI gingen davon aus, im Wohnwagen seien zufällig Materialien in Brand geraten oder absichtlich angezündet worden, und dieses Feuer habe die Explosion herbeigeführt.
Ein FBI-Ermittler – ein kleiner Mann namens Wendt – erklärte Joe im Vertrauen, dass er ihm glaube. Er sagte aber auch, seine Darstellung der Ereignisse sei schwer zu beweisen – wenn überhaupt. Wendt befürchtete zudem, im internen Ermittlungsbericht würde Munker zum Held stilisiert, der in Erfüllung seiner Pflicht gestorben war. Doch wie auch immer: Auch Joe würde für seinen Versuch, Munkers Leben zu retten, belobigt werden.
Joe machte sich nur wenig Hoffnung, doch ein Teil von ihm wollte daran glauben, dass weitere Untersuchungen seine Version der Ereignisse stützen und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen würden. Vielleicht würde ein Hilfssheriff oder ein anderes Mitglied des Angriffsteams seine Schilderung wenigstens teilweise bestätigen. Irgendjemand, dachte er, muss doch Gas ausströmen gehört haben. Vielleicht würde mit der Zeit und zunehmenden Schuldgefühlen jemand vortreten und seine Version untermauern.
Doch ihm war klar, wie unwahrscheinlich das war. Und er wusste aus Erfahrung, dass Ordnungshüter zusammenhielten und allesamt die gleiche Version der Ereignisse boten.
Für Joe und Marybeth Pickett vergingen die zwei Monate nach Aprils Tod in einer Art bitterem, traumverlorenem Nebel. Immer wieder durchlebte Joe die Ereignisse der achtundvierzig Stunden vor der Explosion und zerpflückte all seine hektischen Aktionen und Entscheidungen. Er bereute tief, Cobb beim ersten Besuch nicht energischer befragt und ihn nicht gedrängt zu haben, ihm zu erklären, was er mit »Zuflucht« meine. Cobb hatte ihn zwar bewusst in die Irre geführt, aber Joe hatte das auch zugelassen. Weil er Cobbs Andeutung missverstanden hatte, hatte er beinahe sechzehn Stunden verschwendet, obwohl er Spud bei dessen Rückkehr aus den Bergen hätte verhaften können. Das nagte an ihm.
In vielen Nächten schlief er nur wenige Stunden am Stück. Manchmal, wenn er wach lag, ging er in sein Büro hinunter und formulierte an seiner Kündigung herum. Einmal hatte er sie schon zugeklebt und frankiert, am Morgen aber wieder aus der Post genommen. Auch hatte er einen Antrag auf Versetzung in einen anderen Bezirk geschrieben, ihn aber nicht
eingereicht. Es ekelte ihn an, das Twelve Sleep Valley mit Melinda Strickland zu teilen.
Marybeth war sprunghaft, und ihre Stimmung schwankte zwischen blanker Wut und einer tiefen Niedergeschlagenheit, die Joe an ihr nicht kannte und die ihn beunruhigte. Wenn sie sich abends im Schlafzimmer einschloss, kochte Joe für seine Mädchen und sagte ihnen, ihre Mutter fühle sich nicht wohl. Sheridan warf ihm dann nur einen langen Blick zu, denn ihr war klar,
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