Blutschnee
vernachlässigt wird. Beten wir darum!«
»Joe, Sie wissen, was ich meine.«
Joe schwieg und blickte wieder nach vorn.
»Mensch, Joe.« Er beugte sich vor und stupste ihn in die Rippen. »Sie wissen doch, was ich meine.«
Joe nickte, sah den Staatsanwalt aber nicht an. Ihm war klar, dass er ihn unfair behandelte, doch das war ihm gleich. Schlafmangel und Frustration setzten ihm zu.
Hersig war Justizbeamter, und Joe war immer weniger geneigt den Rechtsweg einzuhalten. Das ganze Rechtssystem ging ihm auf die Nerven, und er war wütend auf seine Repräsentanten. Er wusste, dass Robey ihm helfen wollte, aber wenig tun konnte. Die Sache mit April erschien ihm fast hoffnungslos. Der Beschluss von Richter Potter Oliver war gültig, auch wenn er ein Skandal sein mochte. Ein Anwalt, den Marybeth beauftragt hatte (und von dem sie nicht wussten, wie sie ihn sich leisten sollten), saß an einem Antrag auf einstweilige Anordnung der Aussetzung von Potters Beschluss. Wenn sie damit in der Vorverhandlung erfolgreich wären, würde eine Hauptverhandlung anberaumt werden. Doch selbst ohne
die anscheinend unvermeidlichen Verzögerungen würde diese Verhandlung wohl erst in Wochen oder gar Monaten stattfinden. Joe empfand die Trägheit der Rechtssprechung in Fällen wie diesem als geradezu teuflisch. Wer wusste denn, ob Jeannie Keeley zu dem Zeitpunkt, da sie zur Verhandlung geladen würde, überhaupt noch in dieser Gegend war? Und was würde April unterdessen widerfahren? Marybeth hatte in der Schule angerufen und sich erkundigt, ob April regelmäßig auftauchte, doch Jeannie hatte sie am Donnerstag wie am Freitag nicht hingehen lassen und behauptet, das Mädchen habe sich einen Virus eingefangen.
Mit jedem Tag schien sich April weiter zu entfernen. Die Leere im Haus schien sie förmlich anzuschreien, doch dieses Schreien würde irgendwann verklingen. Das Schlimmste ist, eines Tages aufzuwachen und nicht mehr an April zu denken, weil zu viel Zeit verstrichen ist, dachte Joe. Dieser Gedanke deprimierte ihn, und er schüttelte den Kopf, um ihn zu vertreiben und sich auf die Versammlung zu konzentrieren.
Melinda Strickland redete noch immer und betonte die Wichtigkeit der Straßensperrungen. Ihre Stimme erschien ihm fern, ihre Sätze wie ein seltsam zusammenhangloser Singsang. Erneut hatte sie sich das Haar färben lassen und trug nun ein Braun, das ins Orangefarbene hinüberspielte.
»Was redet sie eigentlich?«, fragte Joe.
Hersig sagte leise und verächtlich: »Was wir da hören, ist eine frappierende Vorführung des frömmlerischsten, wirrsten und auf ängstlichste Absicherung bedachten bürokratischen Unsinns, der mir je zu Ohren gekommen ist. Und wenn Sie mich zitieren, werde ich diese Aussage abstreiten.«
Erstaunt wandte Joe sich wieder Melinda Strickland zu. Einem Elektriker im Ruhestand war das Wort erteilt worden, und der Mann fragte, warum eine bestimmte Straße in den
Bighorns für den Autoverkehr geschlossen worden war. Er sei sein Leben lang darauf zur Jagd gefahren, und sein Vater habe es fünfzig Jahre lang ebenso gehalten.
»Ich wünschte, ich hätte in dieser Angelegenheit eine Wahl …«, erklärte Strickland der Versammlung gerade. »Aber es ist nicht so einfach. Ich verstehe Ihre Einwände, doch diese Prinzipien sind nun mal verabschiedet worden, und wir können sie gegenwärtig kaum ändern. Wir haben weder das Personal noch die Geldmittel, um die Weiderechte der Rancher und die Holzeinschlagsquoten im laufenden Fiskaljahr neu zu bewerten …«
Hersig hatte Recht. Strickland redete in gewundenen Sätzen, die nirgendwohin führten, und immer wenn ihre eigentlichen Absichten deutlich zu werden drohten, streute sie verwirrende kleine Nebenbemerkungen ein, um die Leute abzulenken. Joe wusste, dass sie – wie früher Gardiner – einen weit größeren Ermessensspielraum besaß, als sie durchblicken ließ. Und wie Gardiner machte sie für all ihre unbeliebten Entscheidungen ungenannte und gesichtslose Vorgesetzte, nebulöse Strategiepapiere und öffentliche Versammlungen verantwortlich, die keinesfalls öffentlich gewesen waren und womöglich nicht einmal stattgefunden hatten.
»… müssen wir einen Ausgleich finden zwischen dem wirtschaftlichen Umgang mit Ressourcen, dem menschlichen Erholungsanspruch und einem gesunden, prosperierenden Ökosystem …«
Während sie monoton weiterredete, hoben einige Zuhörer die Hand, doch sie ignorierte sie. Joe spürte die Spannung in der Cafeteria steigen. Einige
Weitere Kostenlose Bücher