Blutschnee
Benachrichtigung heute Morgen mitgegeben. Gut möglich, dass Sie sie noch nicht bekommen haben.«
Die Sekretärin blätterte das Notizbuch durch und schaute dann auf. Sie war ganz rot vor Verlegenheit. »Hier ist nichts, aber das heißt nicht, dass sie die Benachrichtigung nicht mitgebracht hat.«
Typisch Kinder, bedeutete Jeannie ihr mit einer Geste.
20
Die beiden Mädchen warteten am Bordstein, als ihr Vater vor der Schule stoppte. Sheridan hielt Lucy bei der Hand. Es war so dunkel wie noch nie an diesem Tag, und der Nebel schien mit kalten Fingern nach ihnen zu greifen. Es schneite nicht richtig, doch in der Luft schwebten Eiskristalle.
»Wo ist April?«, fragte Joe, als Lucy über den Vordersitz auf die enge Rückbank kletterte und ihre Schwester sich neben ihn schwang.
»Mom hat sie am Nachmittag abgeholt«, erwiderte Sheridan und legte den Sicherheitsgurt an.
Er nickte und wollte sich schon wieder in den Verkehr einfädeln, doch dann schien ihm etwas einzufallen, und er trat abrupt auf die Bremse. »Dad!«, schrie Lucy tadelnd, doch ihre Schwester wandte sich ihm zu.
»Sheridan«, sagte er langsam und sprach die Worte so deutlich aus, dass sie ihm wie Steine aus dem Mund fielen. »Woher wisst ihr, dass eure Mutter sie abgeholt hat?«
»Ich hab die Ansage von nebenan gehört«, erwiderte sie. »Die Sekretärin hat sich über die Gegensprechanlage gemeldet und April ins Vorzimmer des Schulleiters gebeten. Das ist ganz üblich.«
Lucy sprang ihrer älteren Schwester bei. »Das war eine Ansage wie bei mir, als Mom mich neulich abgeholt und zum Zahnarzt gebracht hat. Wenn so was ist, bedeutet es immer, dass die Mutter oder der Vater im Sekretariat wartet.«
»Habt ihr sie gesehen?«, fragte Joe. »Habt ihr Mom gesehen?«
Die Mädchen schüttelten den Kopf. Sheridan hatte eine Frau in grünem Kleid an ihrem Klassenzimmer vorbeigehen sehen, doch das war nicht Marybeth gewesen. Sie wusste
nicht, warum ihr Vater so aufgebracht war. Doch dann begriff sie blitzartig, was geschehen sein musste: Jeannie Keeley war gekommen und hatte April mitgenommen. Sheridan schlug sich die Hand vor den Mund. So etwas hatte sie befürchtet. Ihre Eltern hatten nie klar gesagt, was mit April los war, doch sie hatte längst gespürt, dass etwas im Busch war.
»Eure Mutter hat den ganzen Tag über in der Bücherei und im Pferdestall gearbeitet«, sagte Joe.
Und ihre Schwester April war verschwunden.
Sheridan schluchzte los, und Lucy tat es ihr nach. Sheridan fühlte sich schrecklich. War sie als Älteste nicht für April verantwortlich gewesen? Ihr Vater kniff die Lider zu, öffnete sie wieder und fuhr los. Er sagte nicht: Schon in Ordnung, ist nicht deine Schuld.
Stattdessen sagte er resigniert: »Ich muss eure Mutter anrufen. «
Joe lag wach im Bett und wartete darauf, dass Marybeth sich neben ihn legte. Es war spät, und er war erschöpft. Er beobachtete, wie Marybeth sich die Zähne putzte und sich das Gesicht vor dem Schminkspiegel reinigte. Von unten hörte er das Gemurmel des Fernsehers, den Missy Vankueren am späten Abend immer laufen ließ.
Marybeth hatte ihn am Abend einmal mehr in Erstaunen versetzt. Als Joe nach Hause kam, hatte sie ihre Wut und Enttäuschung in etwas Nützliches verwandelt. Ihre Fähigkeit, Emotionen beiseitezuschieben und strategisch zu denken, ist frappierend, dachte er.
Sie hatte Sheridan und Lucy beruhigt, so gut es ging, und für alle Abendessen gemacht. Während des Kochens hatte sie erst den Schulleiter, dann den Sheriff angerufen und sie
über das Geschehene informiert. Dann hatte sie – es war bereits Büroschluss gewesen – dem Bezirksstaatsanwalt und drei Rechtsanwälten aufs Band gesprochen und sie gebeten, sich gleich am nächsten Morgen bei ihr zu melden.
Während die Mädchen geduscht und mit Missy ferngesehen hatten, hatte Marybeth einen Koffer und mehrere Kisten mit Aprils Kleidung und Spielsachen gefüllt. Schnellstmöglich, so hatte sie Joe mitgeteilt, müssten sie dafür sorgen, dass Jeannie diese Habseligkeiten bekam. Sie hatte das mit einer Entschlossenheit festgestellt, die ihn tief beunruhigte.
»Jeannie hat April abgeholt, bevor wir unsere Kleine darauf vorbereiten und von ihr Abschied nehmen konnten«, sagte sie. »Das werde ich ihr nie verzeihen.«
Missy war stets der Überzeugung gewesen – und hatte es oft zum Besten gegeben –, dass Marybeth eine großartige Firmenanwältin geworden wäre, wenn sie nicht Joe Pickett geheiratet und Kinder bekommen hätte.
Weitere Kostenlose Bücher