Blutschuld
einzelne Silbe und strapazierte Naomis angekratztes Nervenkostüm zusätzlich. »Kennen wir uns?«
Fast hätte Naomi gelacht. Sie schluckte das Lachen hinunter, würgte an dessen Bitterkeit. Zuzulassen, dass Lachen und Bitterkeit sich Bahn brächen, hätte bedeutet, nicht mehr damit aufhören zu können. Aber wer wegen eines Stahlbands aus Schmerz um die Brust kaum Luft holen konnte, konnte sowieso nicht lachen.
Plötzlich umfing Erschöpfung Naomi wie ein schwerer Mantel. Seltsam unbeteiligt antwortete sie: »Nein. Wir kennen uns nicht.«
»Sind Sie sicher? Wie heißen Sie?«
Naomi schloss die Augen. »Ishikawa«, sagte sie leise. Sie sagte es so leise, dass die Laute kaum Schallwellen in der Luft erzeugten. »Naomi Ishikawa.«
Scharf holte Abigail Luft. Naomi hörte es gerade noch, ehe dieTür zuschwang. Naomi blieb nicht stehen, um nachzuschauen, ob Abigail hinter ihr herkäme. Sie kam nicht.
Ihre Mutter war ihr nie hinterhergekommen.
So wütend und erschöpft, dass es ihr die Sprache verschlug, ging Naomi um die Trennwand zwischen der Damen- und der Herren-Umkleide herum und drängte sich durch die Schwingtür dort. Hier war niemand. Alles war sauber. Borde und Ablagen waren mit Herrendüften und Duschgels gefüllt, die nach Wald und frisch verarbeitetem Holz rochen. Naomi grabschte nach irgendetwas, das ihr zwischen die Finger kam.
Sie duschte so heiß, dass sie sich fast verbrühte. Die ganze Zeit über versuchte sie sich weiszumachen, sie lauschte nicht angestrengt über das Rauschen des Wassers hinweg auf die Stimme ihrer Mutter.
Versuchte sich weiszumachen, es zerrisse ihr nicht vor Enttäuschung das Herz, als es nichts zu hören gab.
Abigail Montgomery war nicht Naomis Problem. Abigail Montgomery hatte selbst genug Probleme, lebte ein einsames Leben, ohne jemanden an ihrer Seite, ohne Liebe. Mit jedem Tag, der verging, zog das Alter eine neue Narbe in das ach so perfekte Fleisch von Naomis Mutter. Mit jedem Tag rückte sie ihrem Tod als hässliche, verhärmte alte Zicke näher.
Naomi bedauerte allein den Umstand, dass sie diesen langsamen Verfall verpassen würde. Sollte die Frau doch ihr Blutgeld für Schönheitsoperationen und jedes Aufbau- und Stärkungsmittel ausgeben, das die Menschheit kannte. Sollte sie doch ruhig gegen Alter und Tod kämpfen.
Nichts könnte sie davor retten. Nichts.
Naomi würde Abigail Montgomery mit Freuden auf’s Grab spucken.
Aber das hieße, Abigail Montgomery zu überleben. Die Chancen dafür standen nicht besonders gut.
Doch, der Gedanke hat was!, dachte Naomi und rubbelte sichmit einem Handtuch trocken, das nach sonnenwarmen Gewürzen und Kaminfeuer roch. Sollte sie nicht vorher eine Kugel erwischen, würde sie auf das Begräbnis dieser Frau gehen und lachen.
Vielleicht wäre dann in ihrem Herzen Platz für etwas anderes als unbändige Wut.
Beim Anziehen kam Naomi noch ein Gedanke. Vielleicht war es die Wut, die Kummer und Bedauern in Schach hielt. Naomi stützte sich an einem Spind ab. Blicklos starrte sie die ordentlich eingravierten Nummern darauf an. Das nasse Handtuch lag ihr locker auf den Schultern. Wasser tropfte aus Naomis Haar. Ein Tropfen lief ihr in den Nacken. Ein Tropfen rann ihr die Wange hinunter.
Ein Tropfen fiel in die hellrote Pfütze zu ihren Füßen.
Naomi starrte die Pfütze an, blinzelte. Öffnete den Mund und bekam keinen Ton heraus.
Kein Fluch, nichts. Nicht dieses Mal.
Sie wusste bereits, was beziehungsweise sogar wen sie finden würde, wenn sie jetzt die Spindtür öffnete.
Sie schob den Riegel aus Metall zurück.
Aus dem engen Gefängnis purzelte Naomi die Leiche entgegen wie eine zerbrochene Puppe. Naomi konnte gerade noch ausweichen. Hellbraunes Haar floss auf die Schieferplatten, als der Schädel der Leiche mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden aufprallte. Die Schwerkraft tat den Rest, um Glieder mit grauer Haut aus dem improvisierten Metallsarg zu befreien.
Katie Landers.
Aufsteigende Hysterie sandte der Hexenjägerin einen kalten Schauer über den Rücken. Dennoch kniete sie sich mit eisiger Ruhe neben die Leiche. Als ob nicht sie die Hand ausstrecken würde, um den schlaffen Körper umzudrehen.
Als ob nicht ihre Hände das aschfahle Gesicht dem Licht entgegendrehten, den Kopf bewegten. Am Hals waren rötlich-blauverfärbt Blutergüsse zu erkennen. Das war sicher nicht angenehm gewesen.
Aber getötet hatte Katie Landers ein sehr effizient gesetzter Messerstich.
Der Geruch von Blut war Naomi immer schon
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