Blutschuld
wollte.
Naomi zitterte am ganzen Körper – vor Kälte, in verspätet einsetzender Schockreaktion. Zitternd zog sie sich aus dem Sturm,der um sie herum tobte, zurück. Sie zog sich von dem Auge des Sturms zurück, in dem eine Ruhe herrschte, die ihr zuzuwinken schien, die sie anzog wie Licht die Motten. Die hinterhältigste aller Fallen, der sich Naomi je gegenüber gesehen hatte.
Feigling.
Naomi trat den Rückzug an.
»Geh!« Lillian scheuchte Phin von der aufgeregten Geschäftigkeit um Abigails Krankentrage fort. »Ich erkenne ein Problem, wenn ich es sehe. Also verschwinde endlich!«
Auch wenn es gegen jedes Prinzip verstieß, das ein guter Chef einzuhalten hatte, hörte Phin auf seine Mutter. Er reagierte auf den drängenden Unterton in ihrer Stimme, gehorchte.
Dieselben Sorgen lagen auch ihm schwer im Magen.
Gerade eben noch war Naomi direkt neben ihm gewesen. Als er das nächste Mal den Kopf wandte, um nach ihr zu sehen, war sie weg. Wahrscheinlich war sie schon wieder dabei, sich in Schwierigkeiten zu bringen und irgendetwas Dummes zu tun. Wahrscheinlich jagte sie dem Geist hinterher, den zu finden ihre Kirche und ihr Orden von ihr verlangten. Was auch immer: Phin konnte nur raten.
Er wählte die Nummer des Sicherheitsdienstes. »Bringen Sie bitte Miss Ishikawas Aufenthaltsort für mich in Erfahrung«, verlangte er, kaum dass der Anruf entgegengenommen worden war.
Barker sparte sich weitere Förmlichkeiten und stieß ein knappes »Ja, Sir!« hervor. Es dauerte nicht länger als eine Minute, aber jede Sekunde war Folter für Phin, ein weiterer Stich Besorgnis mitten ins Herz.
Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht.
»Miss Ishikawa befindet sich im Fitness-Bereich«, berichtete Barker. »Genauer gesagt: in der Trainingshalle.«
»Ist jemand bei ihr?«
»Nein, Sir, sie ist allein. Sieht alles sauber aus.«
»Gut.« Phin hastete bereits durch den Atrium-Park. »Geben Sie die entsprechenden Anweisungen. Wir schließen, bis die Probleme hier beseitigt sind. Ich möchte, dass Sie jeden verfügbaren Mann darauf ansetzen.«
»Ja, Sir. Wir durchsuchen bereits jedes einzelne Stockwerk.«
»Holen Sie sich alles an Unterstützung und Personal, was geht. Es ist mir egal, wie viel Druck Sie dabei ausüben müssen und auf wen. Aber bringen Sie sie her, und dann an die Arbeit mit ihnen! Sorgen Sie dafür, dass die Zeitweiligen an einen sicheren Ort gebracht werden, sicher – haben Sie mich verstanden! Und schicken Sie das Personal nach Hause, sobald alles evakuiert ist.«
»Ja, Sir. Was Vaughn angeht, Mr. Clarke …«
»Später!« Phin stieß einen tiefen Seufzer aus. Er hastete durch die Doppeltür in den Sportbereich und eilte an den verglasten Wänden entlang ins Fitnessstudio und die kleine Trainingshalle dort.
Er hörte Naomi, bevor er sie sah.
Genau wie beim ersten Mal, wo er sie hier hatte trainieren sehen, tänzelte sie vor einem der Sandsäcke. Der schwere, robuste Sack pendelte wild an seiner Kette hin und her; bei jedem wütenden Hieb, bei jeder Schlagkombination, bei jedem Tritt klirrten die Kettenglieder aneinander.
Aber dieses Mal war es anders. Naomi war anders. Unkontrolliert. Sie hatte sich nicht einmal umgezogen. Eine Frau in Jeans, tropfnassem Pullover und hochhackigen Stiefeln, die wie besessen auf einen Sandsack einprügelte – das wollte nicht recht zusammenpassen. Aber Naomi bewegte sich, als ob sie es gewohnt wäre, in hochhackigen Schuhen zu kämpfen.
Als ob es ihr scheißegal wäre, was andere vielleicht dachten.
Sie bewegte sich wie eine Missionarin.
Und er, Phin Clarke, war ein Dummkopf, der Hexen und Hexer vor der Mission versteckte.
Gott verdammte Scheiße! Es spielte keine Rolle. Phin ging um die Glaswand herum. »Naomi!«
Mit bloßen Fäusten traktierte sie den Sandsack. Viel zu heftig. Der Sack schwang hin und her, da schlug sie schon wieder zu. Bei jedem Schlag stieß sie einen wilden, wütenden Laut aus; unkontrollierte Wut brodelte aus ihr heraus. Wieder schlug sie zu. Eine Kombination aus einem mächtigen linken Seitwärtshaken und einem gut platzierten Aufwärtshaken. Phin zuckte zusammen, als hätten die Schläge einen menschlichen Gegner getroffen. Rot tänzelte es vor der Sandsackummantelung aus Kunstleder. Nasses Haar hing in Strähnen auf Naomis Schultern herab, von den durchgeweichten Jeans und dem durchgeschwitzten roten Pullover tropfte es auf die versiegelten Bodendielen.
»Naomi«, sprach Phin sie noch einmal an. Er nahm
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