Blutschuld
über die Bodenfliesen und sprang ins Wasser. Halb erwartete Naomi, beim Kontakt mit dem Wasser gegrillt zu werden, sich in eine Masse aus kochendem Fleisch und geschmolzenen Knochen zu verwandeln. Aber die andere Hälfte tauchte mit kraftvollen Bewegungen durchs Wasser und gab alles, bis ihre Hände in kurzes blondes Haar fassten.
In aufschwimmende grüne Seide.
Naomi rang nach Atem, als sie die Wasseroberfläche durchstieß, in ihrem Arm Abigails reglosen Körper, den sie mit kräftigen Beinstößen mit sich und hinüber zum Beckenrand zerrte. Naomis Nerven vibrierten voller böser Vorahnungen, aber sie kämpfte verbissen weiter. Sie packte die reglose Frau beim Schopf, an den Kleidern, an den leblosen Armen und Beinen, und wuchtete sie, ungelenk über den Beckenrand, raus aus dem Wasser.
Naomi musste ihre ganze Kraft dafür zusammennehmen. IhrHaar hing ihr nass in die Augen, in denen Chlor brannte. Sie fluchte und drückte und zerrte und schob. Dann tauchte sie wieder; vor ihrem geistigen Augen tanzten Bilder einer von Stromstößen verkohlten Leiche. Sie rammte die Schulter in Abigails Rücken.
Der leblose Körper kam tatsächlich in Bewegung, schien aber über Naomi hinweg wieder ins Becken stürzen zu wollen statt hinaus aufs Trockene. Naomis angestrengtes Ächzen ging in einen Schrei über und endlich ließ sich Abigail hinaufstemmen und über den Beckenrand rollen.
Reglos blieb sie liegen. Gütiger Gott, sie bewegt sich nicht, sie atmet nicht. Naomi war nicht fähig zu entscheiden, ob …
Raus! Sie musste raus aus dem Wasser.
Wieder nahm Naomi ihre ganze Kraft zusammen, stemmte sich selbst, die Hände auf dem Beckenrand, hinaus aus dem Pool. Wasser schlang sich wie eine schwere Decke um ihre Hüfte, ihre Beine, hielt sie an ihren vollgesogenen Kleidern fest, als wolle es sie hinabziehen mit sich. Naomi fluchte, keuchte und japste und schaffte es: Sie rollte sich ab und auf den Fliesenboden hinüber zu Abigail, die sich immer noch nicht rührte.
Blut rann aus einem Riss auf ihrer Wange. Das und verlaufene Wimperntusche verwandelten das wunderschöne Gesicht der Frau in eine grausam entstellte Maske.
»Notarzt«, keuchte Naomi. Sie brauchte, oh Herr im Himmel, einen Notarzt. Sie brauchte Hilfe. Sie brauchte jemanden, verflucht, sie brauchte Phin . »Hilfe!«, schrie sie, »helft mir!« Eine neuerliche Dosis Adrenalin brachte ihre erschöpften Arme und Beine wieder dazu zu gehorchen. Sie zog Abigail in ihren Schoß. Im Mund einen bitteren Geschmack, spürte Naomi wie tiefer Schrecken ihr wie eine dicke, fette Kröte im Hals saß, im Herzen.
Keine Ahnung wie, gelang es ihr, hoch auf die Füße zu kommen, mit dem reglosen Körper auf den Armen. Keine Ahnung wie, trug sie ihre Mutter vorbei an dem über den Boden peitschenden Kabel, das Funken sprühte. Fort vom Wasser, dass zischelte und zischte, als das Kabel dann doch im Pool landete. Um Naomi herum erhob sich ein elektrischer Gewittersturm, als das Wasser der Leitung alle Energie aussaugte und die Lampen an der Decke platzten. Es regnete Glassplitter und elektrische Funken.
Keine Ahnung wie, schaffte Naomi es bis zur doppelflügeligen Eingangstür. Stieß sie auf. Taumelte nach draußen.
Warme Arme umfingen sie. Hielten sie, nahmen ihr ihre Last ab, ehe Naomi unter ihr in die Knie sinken konnte. Phins Stimme. Phins Anweisungen.
Phins Kraft und Stärke.
Überall um Naomi herum Menschen, Ameisen beim Angriff auf ihren Hügel, und Naomi ließ zu, dass Phin ihr Abigail abnahm. Er trug sie, als sei die Frau federleicht. Die Kraft, die Phin ausstrahlte, besaß etwas Selbstverständliches, etwas sehr Beruhigendes. So stand er inmitten von Chaos und Lärm und gab seine Anweisungen. Er ließ eine Krankentrage holen, den Bereitschaftsdienst der Haustechnik verständigen, das Personal ausschwärmen, um nach den Gästen zu sehen.
Der Rettungswagen war schon unterwegs.
Allmählich und mühelos stellte Phin Ordnung im Chaos her.
Aber Naomi konnte nicht hinsehen. Wollte ihm nicht dabei zusehen, wie er zum Auge des Sturms wurde. Kühl, unbewegt, nicht aus der Ruhe zu bringen stand er in Oberhemd und perfekt gebügelten Anzughosen da, das Haar frisch gewaschen. Geduld, Mitgefühl, innere Stärke – alles seine Eigenschaften, alles zu sehen, während er dastand und Anweisungen erteilte.
Auf seinen Armen trug er die Frau, von der Naomi im Stich gelassen worden war.
Die Frau, der Naomi um ihrer selbst willen diesen Gefallen nicht erwidern konnte und
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