Blutschuld
sie bei den Schultern. Unter seinen Händen spürte er verfilztes, von Chlorwasser ruiniertes Kaschmir und Naomis Bewegungen. Geschmeidigkeit, geballte Kraft. »Hör auf, Liebes, bitte, du wirst dich noch verletzen …!«
Sie fuhr herum, angriffslustig, packte Phin am Hemd, die Knöchel aufgeschrammt und blutig. »Verzieh dich!«, fauchte sie. Ihr Gesicht war ganz nah vor seinem. Ihr Blick wirkte so gequält, doch Phin ließ sich nicht einschüchtern.
Nicht von ihr. Nicht von der Frau, der er bereits verfallen war.
Er ignorierte die Faust, die ihn gepackt hielt. Er ignorierte Naomis unbeschreibliche Wut und strich ihr mit den Fingerspitzen ganz zart und sanft über die Wange. »Alles ist gut«, sagte er besänftigend.
Der Laut, der aus Naomis Kehle drang, hätte einem menschlichen Wesen gar nicht möglich sein dürfen. Das Fauchen eines verletzten wilden Tieres, das sich in die Enge getrieben fühlt. Ein Raubtier im Käfig, gefangen, verzweifelt. Ein Laut, aus den Tiefen einer verletzten Seele. Mit einer heftigen Drehbewegung riss sich Naomi von Phin los und stieß ihn gleichzeitig von sich.
Phin taumelte ein, zwei Schritte zurück, fing sich aber. Sofort ging er wieder auf Naomi zu, die sich erneut dem Sandsack zugewandt hatte; ihre Schultern bewegten sich, während Naomi ausholte und zuschlug, ausholte und zuschlug. »Alles ist in Ordnung«, sagte Phin wieder. Er legte alle seine Zärtlichkeit in diesen Satz, als müsse er ein verletztes Kätzchen zu sich locken. Ein verängstigtes Kind.
»Hör auf damit!«
Er schüttelte den Kopf. »Alles wird wieder gut.«
»Du hast so was von keine Ahnung!«, spie sie die für ihn bestimmten Worte dem Sandsack entgegen. Als Phin wieder seine Hände auf ihre Schultern legte, verspannte sich ihr ganzer Rücken unter der Berührung.
Innerlich wappnete sich Phin gegen Naomis Zorn, bereitete sich auf alles vor für den Fall, dass sie ihrem Schmerz freien Lauf ließe. Er ließ die Hände von den Schultern ihre Arme hinuntergleiten. Naomi zuckte zusammen, aber er trat noch näher an sie heran. »He«, flüsterte er in ihr nasses, kaltes Haar, »alles ist in Ordnung.«
Wie unter Schmerzen holte Naomi mühsam Atem, zittrig; es klang wie ein Schluchzen. Es fühlte sich an, als löste sich in seinen Armen ein Teil der Anspannung. Der Damm brach. Rasch drehte er sie zu sich um. Er hatte mit mehr Widerstand gerechnet, aber sie ließ es geschehen. Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest, während sie zitterte.
Irgendwann in naher Zukunft würde er ihr alles sagen, ihr erklären, dass das Zeitlos Menschen half und warum. Er würde ihr verständlich zu machen versuchen, dass er sie nicht hatte belügen wollen. Dass es nicht seine Absicht gewesen war, die Missionarin auszutricksen, die sie, wie er jetzt wusste, nun einmal war.
Eines Tages würde er sie davon überzeugen müssen, dass sie ihm vertrauen konnte. Aber im Hier und Jetzt genügte es, sie in den Armen zu halten. Er hielt sie fest, als sie sich gegen seine Brustfallen ließ und er ihr Gewicht spürte, das zu tragen sie jetzt seinen starken Armen überließ. Sie war groß. Aber er trainierte nicht umsonst jeden zweiten Tag im Fitnessstudio. Naomi hängte sich Phin an den Hals, umschlang seine Taille mit ihren schlanken Beinen und vergrub das Gesicht an seiner Schulter.
Alles in ihm schrie nach ihr. Er litt mit ihr und litt selbst, so sehr sehnte er sich nach ihr. Ohne ein weiteres Wort trug er sie quer durch die Halle zum Umkleideraum der Damen, zu den Duschen dort. Er hielt Naomis Kopf mit der einen Hand, barg ihn an seiner Schulter, mit der anderen drehte er in einer der Kabinen die Dusche auf. Der kräftige Wasserstrahl, den der Duschkopf ausspuckte, traf sie beide. Er durchnässte Phins Kleidung ebenso wie Naomis, hüllte sie beide in dampfende Wärme und ein stetiges Rauschen ein, das alle anderen Geräusche schluckte. Auch Naomis Schluchzen. Phin wusste, dass all diese Tränen notwendig waren.
Aber Naomi würde eher sterben, als von sich aus Tränen nachzugeben.
Seine zarte, zerbrechliche Hexenjägerin.
Er brauchte eine Hand frei. Also sorgte er für stabilen Stand, indem er sich an der Wand abstützte. Naomis Rücken an der Wand ging Phin ein kleines Stück auf Abstand zu ihr, strich ihr das nasse Haar aus dem Gesicht und blickte in ihre Augen. Sie schwammen in unterdrückten Tränen, zwei mandelförmige Seen volle Emotionen. Trauer, Furcht, finsterster Groll.
Augen, die unruhig und gehetzt wirkten.
Den
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