Blutschuld
Finger unter ihrem Kinn zwang er Naomi, das Gesicht in den Wasserstrahl zu heben. Das Wasser lief ihr über Stirn und Wangen, über Nase und Kinn, fiel ihr auf die Schultern, die Brust. Es wusch den unangenehmen Geruch von nasser Wolle und Chlor ab, den stechenden Geruch vom Ozon der elektrischen Entladungen, die sie beinahe getötet hätten.
»Sieh mich an!«, verlangte Phin von ihr.
Weil es Naomi war, tat sie es. Eine Herausforderung, kompromisslos und direkt. Phin ging das Herz auf. Seine Naomi. »Ich brauche keine …« Heftig sog sie Luft ein, als Phin ihr die Hand flach auf die Brust legte, gleich neben das Brustbein. Er wollte ihr Herz schlagen spüren.
»Hör mir zu«, sagte er mit sanfter Stimme. »Alles wird wieder gut.«
»Verfluchte Scheiße, ich …«
»Alles wird wieder gut«, wiederholte Phin. Sie wich seinem Blick aus; ihr Atem ging schwer, zittrig von der Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten, die unbedingt herauswollten. Naomi musste endlich loslassen und weinen.
Wann hatte sie wohl zuletzt geweint?
Erlaubte die Mission ihren Jägern Gefühle? Scherte sie sich überhaupt darum?
Erst halbherzig, dann mit Vehemenz versuchte sich Naomi aus Phins Umarmung zu befreien. Aber er hielt sie fest. Er verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken, benutzte sein Gewicht, um Naomi zwischen sich und der Wand einzuklemmen. Wut verzerrte ihr Gesicht zu einer zähnebleckenden Grimasse.
Das war ein Anfang.
»Du hast dein Leben riskiert … nein, Naomi, nicht!«, sagt er rau, als sie begann, um sich zu schlagen. Ihr Ellenbogen krachte in die Kacheln hinter ihr. Ihre Faust schoss haarscharf an Phins Ohr vorbei, bohrte sich in die Wand oberhalb von Phins Schulter.
Es hörte sich an, als hätte sie sich alle Knöchel gebrochen, und Phin fluchte.
» Nein!« Ihr Aufschrei hallte von den gefliesten Wänden wider. »Wag es ja nicht …«
Die Gewalt, mit der sie sich ihm und den Tränen verweigerte, brach Phin das Herz. Er schüttelte sie heftig genug, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und Naomi, die ihn aus rotgeränderten Augen böse anfunkelte, die Worte zerbiss, statt sie ihm trotzigentgegenzuspucken. »Du hast dein Leben riskiert, um eine Frau zu retten, die du nicht ausstehen kannst«, sagte er tonlos. »Erzähl mir also jetzt nicht, dass es dich nicht kümmert!«
»Was weißt du schon?«, zischte sie ihn an. Die Wut reichte nicht, um ihrem vom Schock bleichen Gesicht wieder Farbe zu geben. Die Wut reichte auch nicht, um die Leere zu füllen, die in Naomis Seele wie ein Abgrund gähnte, ein tiefer Riss aus Schmerz. Phin konnte in Naomis Augen die Leere, die Tiefe erahnen.
»Ich weiß, dass diese Frau dir unter die Haut geht.«
»Leck mich!«
»Ich weiß, dass sie dich tief verletzt hat«, fuhr Phin unbeirrt fort. Er packte ihre Handgelenke, nagelte sie über ihrem Kopf an der Wand fest. Das gelang ihm nur, weil sie ihn ließ. Er hatte sie kämpfen sehen, hatte sie angeschossen weitermachen sehen, als wäre es nichts.
Aber sie befreite sich nicht vom ihm, schüttelte ihn nicht einfach ab wie Schnee von einem Mantel.
Irgendwo tief in ihr, inmitten der Wut, spürte sie, dass sie ihn brauchte.
»Ich weiß, dass du …«
»Sie hat mich verlassen.« Ihre Stimme brach, wurde von einem Schluchzen verschluckt. Es war ein wilder Aufschrei, der in Phins Ohren nach tiefer Trauer klang, nach einer Frau, die man verletzt hatte, aber mehr noch nach einem kleinen Mädchen, das Seelenqualen litt. Naomi wehrte sich gegen Phin, dessen Gewicht und Körperkraft sie an die Wand pressten. Die Hände hatte sie ihm schon entwunden, schlug um sich. Dann knallte sie mit voller Wucht den Hinterkopf gegen die Kacheln. Phin erschrak und versuchte, Naomi von der Wand wegzubekommen. Als er sie wegzog, verlor er das Gleichgewicht. Er rutschte aus, und sie beide schlugen lang auf den gekachelten Boden, Beine und Arme ineinander verheddert. Immer noch schlug Naomi um sich. Sie fluchte, und setzte alles daran, sich aus Phins Armen zu befreien.
Sich von ihm zu befreien. Von der Erinnerung.
Phin war sich nicht sicher, wem Naomis Kampf galt. Aber sie durfte diesen Kampf nicht gewinnen.
Sie konnte es sich nicht leisten.
Kaum dass sie sich von ihm losgerissen hatte, schnappte er sich auch schon wieder ihre Beine, zog sie daran mit einem heftigen Ruck über die Fliesen zu sich zurück, warf sich auf sie. Wieder setzte er sein ganzes Gewicht ein, um sie zu bändigen. Sie brüllte und schrie. Aber er drückte sie zu
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