Blutschuld
Boden, bis der Strom wilder Flüche verebbte und nur noch ihrer beider Keuchen zu hören war. Unter seinen vor Anstrengung bebenden Händen schmolz die Anspannung ihrer Muskeln dahin, und was blieb, war Erschöpfung.
Das Rauschen der Dusche, das Prasseln des Wassers auf die Fliesen ringsum, war die einzige Lautkulisse.
Immer noch atemlos schob sich Phin von Naomi herunter. Zumindest halb.
Sie drehte sich von ihm weg, rollte sich auf den Fliesen zusammen. Die Beine angezogen, wie ein Embryo, lag sie da; ihr Haar floss wie eine schwarze Welle dem Abfluss entgegen. Ihr Gesicht hatte sie von Phin abgewandt.
»Liebling«, flüsterte Phin. Mehr brachte er nicht heraus.
Ihre Schultern zuckten. »Ich war fünf Jahre alt.« Sie sprach die Worte zu den Fliesen hin, was ihre Stimme dämpfte. Aber Schmerz und Wut waren unüberhörbar.
Da ließ Phin Naomi los.
Sofort war sie in Bewegung. Katzengleich, schnell und mit fließenden Bewegungen. Aber dieses Mal wollte sie nicht mehr raus und fort. Sie rannte nicht davon. Sie flüchtete sich nur in die Ecke der ummauerten Dusche, wischte sich das Haar aus dem Gesicht und das Wasser aus den Augen.
Nein, kein Wasser.
Herr im Himmel, Tränen! Obwohl Phin gewollt hatte, dassNaomi weinte, weil er wusste, dass sie es brauchte, musste er jetzt mächtig gegen den Drang ankämpfen, sie wieder in die Arme zu schließen. Sie in seinen Armen zu wiegen, sie zu beruhigen und zu trösten, damit die Tränen wieder versiegten.
Aber das würde ihr nicht helfen.
Also hockte er sich vor sie hin. Es brauchte all seine Kraft, ruhig zu klingen, als er sagte: »Alt genug, um sich zu erinnern.«
Abgehakt sog Naomi Atemluft durch die Nase, um sie durch den Mund wieder auszustoßen, ein Laut zwischen Abscheu und Empörung. Das nächste halbe Schluchzen. »Sie ist einen Tag vor meinem fünften Geburtstag abgehauen. An dem einen Tag hat sie mit dem Personal noch eine Party geplant, und am nächsten packt sie ihren ganzen Kram, ihre Kleider, ihren Schmuck, und weg ist sie.«
Phin beobachtete Naomi. Er sagte nichts.
Er musste vorsichtig sein.
»Mein Vater hat sie angebetet. Ach, Scheiße!« Das nächste Schluchzen. Ihre Lippen bebten. »Gott allein weiß, warum, aber so war mein Vater halt. Er war nicht der erste Idiot, der sich von ihr hat einfangen lassen und sie geheiratet hat. Aber mit den Männern vorher hatte sie keine Kinder. Sie hat mich immer Püppchen genannt. Ihr Püppchen.« Ihre Hände zitterten, als sie sich mit den Fingern durchs Haar fuhr. »Ihr kleines japanisches Püppchen. Sie hat nur …« Sie spreizte die Finger, fuhr damit durch die Luft. »Sie hat nur was hübsches Kleines gewollt, um es herumzuzeigen. Aber sie wollte keine Verantwortung übernehmen.«
Sich das vorzustellen, dafür reichte Phins Fantasie nicht aus. Dass Naomi so darüber sprach, so nüchtern und sachlich, konnte es nicht verbergen. Gleich unter der Nüchternheit tobten heftige Gefühlsstürme. Und es erklärte so viel. Herrgott, Phin wollte, es wäre alles anders, er wollte es wirklich.
»Etwa drei Monate, nachdem sie weg ist, hat mein Vater die Scheidungspapiere zugestellt bekommen.« Naomis Stimme wurde rauer, härter. »Dann ist er gestorben.«
»Oh, Liebling.«
Heftig schüttelte sie den Kopf, so heftig, dass es Wassertropfen aus ihrem Haar überallhin regnete. »Niemand hat es kommen sehen.« Ihr Lachen war beißend, rau und heiser. »Er hat sich einfach so … umgebracht. In seinem Testament hat er alles ihr vermacht. Ich musste ins Waisenhaus, verstehst du?« Dieses Mal konnte sie das Schluchzen, das gegen ihre zusammengebissenen Zähne anrannte, nicht mehr hinunterschlucken. Sie konnte auch die Tränen nicht mehr zurückhalten, die ihr jetzt die geröteten Wangen hinunterliefen.
»Sie ist, verstehst du«, sagte sie in einem neuerlichen Anlauf, »mich nie holen gekommen.«
Phin konnte die Vorstellung kaum ertragen. Verlassen und vergessen worden. »Es tut mir so leid«, sagte er leise. Er wusste, dass Worte nicht reichten, niemals reichen würden.
»Nein.« Sie hob das Kinn; ihr Kampfgeist meldete sich zurück. Es war, als habe sie in ihrem Kopf einen Schalter umgelegt. Phin sah, wie Kälte und eiserne Disziplin ihren angestammten Platz zurückeroberten, Naomis Gesichtszüge beherrschten, ihren Blick. Missionarsaugen sahen ihn an. Sie taugten nicht als Spiegel der Seele. »Du hast es wissen wollen. Bitte, jetzt weißt du’s: Meine Mutter hat mich der Mission überlassen, hat mich, hat meinen
Weitere Kostenlose Bücher