Blutschwestern
blenden, als sie sich bückte und aus einem der gefüllten Körbe einen kleinen und fein gearbeiteten Dolch herausnahm. Ihr Finger
fuhr über die scharfe Schneide und berührte vorsichtig die Spitze des Metalls. Sein Griff war selbst für Xirias Verständnis
wunderschön gearbeitet und zeigte zwei sich berührende Greifenschwingen. Mit ihrem Instinkt wusste sie, dass dies ein Werkzeug
zum Töten war, ebenso wie die Klauen, die sich an den Gelenken ihrer Schwingen befanden.
Entzückt vom schillernden Glanz des Silbers durchsuchte Xiria die Körbe weiter und fand Beinschienen, die jedoch zu groß waren,
da man sie für männliche Körper gefertigt hatte. Enttäuscht übergab sie die Schienen Injamon.
»Xiria will diese hier, aber sie sind zu groß.«
»Sie können neu gehämmert werden für Xiria.«
Mit erwachtem Interesse durchsuchte sie weiter die Körbe und fand Armreifen, einen Brustpanzer sowie einen Stirnreif mit feinen
Zierketten, die über ihr Haar fielen. Als Xiria endlich zufrieden war, befahl Injamon zweien der Greife, den Schmuck für Xiria
passend zu hämmern und zu formen. Sie gehorchten, ohne aufzubegehren. Xiria stellte einmal mehr fest, wie angenehm es war,
alles haben zu können, was das Herz begehrte. Doch Injamon besaß kein Herz, erinnerte sie sich schnell. Er wusste das alles
nicht zu schätzen, nicht so sehr wie sie es schätzte.
Unzufrieden verzog Xiria die Lippen. Sie war einzigartig – wie |357| gut hätte es sich angefühlt, wenn die Greife nicht auf Injamons Befehle, sondern auf ihre gehört hätten! Ein Gedanke nahm
in ihrem Kopf Gestalt an. Injamon war der Anführer, weil Mador ihn dazu ernannt hatte. Wenn dieser Mador ein Anführer war,
der andere Anführer ernannte, hätte er bestimmt auch Xiria zu einem Anführer machen können.
»Wann bringt Injamon Xiria zu Mador?« fragte sie erneut, und Injamon antwortete wie immer. »Bald!«
»Nein«, wagte Xiria das erste Mal Einspruch. »Wenn Xiria ihren Schmuck hat.«
»Injamon entscheidet, wann er Xiria zu Mador bringt«, stellte der Greif klar, und sie wurde zornig. »Xiria ist einzigartig.
Was wird Mador sagen, wenn er erfährt, dass Injamon Xiria vor ihm versteckt hält?«
Der kalte Glanz in den Augen Injamons stieß sie ab. Er war so leer und so leblos. Degans Augen waren anders gewesen. Sie hatten
geleuchtet und sie gewärmt. Injamons nichtssagende Blicke waren langweilig. Xirias Augen hingegen funkelten entschlossen,
als sie auf eine Antwort von ihm wartete.
Schließlich gab Injamon nach und nickte. »Wenn Xirias Schmuck fertig ist«, antwortete er, und Xiria spürte ein neues, bisher
nicht gekanntes Gefühl. Es war Freude darüber, ihren Willen durchgesetzt zu haben, Freude darüber, dass Injamon tat, was sie
sagte. Es fühlte sich gut an, es kribbelte in ihrem Nacken, es ließ sie sich stark fühlen.
Mehr davon!
dachte sie verzückt und beobachtete Injamon von der Seite, der wieder einmal von ihren Gedanken und Gefühlen nichts wusste.
Injamon ist dumm, er weiß überhaupt nichts … Warum soll Xiria tun, was er sagt, warum soll er über sie bestimmen dürfen? Injamon
sollte das tun, was Xiria will und nicht umgekehrt.
Plötzlich überkam sie ein seltsames Verlangen. Wie eine Fessel legte sich Enge um ihr Herz, eine Enge, die sie zornig machte
und sie antrieb, sich daraus zu befreien. Warum sollte sie überhaupt |358| irgendetwas tun, was andere ihr sagten?
Mutter
hatte das verlangt, und Xiria hatte sich von ihr befreit. Sie überlegte eine Weile. Noch wusste und verstand sie nicht genug,
noch musste sie warten und vorsichtig sein. Noch immer gab es viel zu lernen. Vielleicht würde Mador sie Neues lehren können,
wenn er wirklich der große Anführer der Anführer war.
Xiria sah sich um und betrachtete die Greife. Ihre Suche war noch nicht zu Ende – noch lange nicht!
Lin brauchte nicht lange, um ihre Mutter zu finden. Ilana stand mit der Lalu-Frau Nona im Garten des Hauses und unterhielt
sich. Lin wusste, dass die Lalu-Frauen es nicht lange in geschlossenen Räumen aushielten, ebenso wie die Greife. Das alles
waren Dinge, die Ilana ihr in den Tagen ihrer Kindheit erzählt hatte. Es waren Geschichten gewesen, zauberhafte unglaubliche
Geschichten – und nun wurden sie alle wahr! Lin hätte gerne darauf verzichtet die Wahrheit hinter diesen Geschichten kennenzulernen,
aber sie musste den Tatsachen ins Auge sehen.
»Wusstest du es, Mutter? Hast du gewusst, was Vater für
Weitere Kostenlose Bücher