Blutschwestern
mich und für Engil beschlossen hat?«, fragte sie, ohne Ilana oder
Nona zu grüßen.
Ihre Mutter hatte dunkle Schatten unter den Augen. Das erste Mal, seit Lin denken konnte, sah sie älter aus, als sie wirklich
war. Nur Nona schimmerte, noch immer umweht von ihrem feinen Haar in den Farben des Regenbogens, als ob sie das alles nicht
berührte. Ilana hatte ihr Haar zu einem Zopf gebunden und trug ein schlichtes wollenes Gewand. Trotz der Hitze des Tages schien
sie zu frieren.
»Lin, ich konnte nichts dagegen tun. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, doch Tojar ließ sich nicht beirren … Und um ehrlich
zu sein … vielleicht ist es die richtige Entscheidung, die er getroffen hat.« Sie sah verschämt zu Nona. »Es tut mir leid,
aber ich bin mir nicht mehr sicher, ob es richtig war, Degan hier in Engil großzuziehen. Vielleicht hätte ich ihn wirklich
Liandra und den Priesterinnen |359| überlassen sollen, die seine Kraft hätten bändigen können. Degan hat viel Leid und Unglück gebracht … dabei hätte er derjenige
sein sollen, der das Licht Salas und den Frieden für immer zu uns zurückbringt.«
Wenn Nona verletzt von Ilanas Worten war, zeigte sie es nicht. Ihre Stimme blieb ruhig und sanft. »Es ist zu früh, um zu verzweifeln,
Ilana. Du kennst Salas Prophezeiung ebenso gut wie ich. Manchmal ist es nicht der einfachste Weg, der zum Ziel führt.«
Ilana zweifelte noch immer an den Worten Nonas. »Aber Lin … nun ja, Sala spricht nicht zu ihr. Sie war niemals stark genug,
um Engil alleine führen zu können. Vielleicht hat Tojar wirklich die richtige Entscheidung getroffen … für Lin und für uns
alle.«
»Mutter«, erklärte Lin empört. »Ich wusste nicht, dass du so über mich denkst.«
Ilana hob den Kopf und wischte sich schnell über die Augen, um die Tränen fortzuwischen. »Es heißt doch nicht, dass ich dich
weniger liebe, Lin. Im Gegenteil, ich …«
Lin hob die Hand und sah Ilana entschlossen an. »Ich werde gehen und Degan suchen. Ich werde ihn nach Engil zurückbringen
… nicht, um ihn als Gefährten zu fordern. Ich tue es für Engil. Braam werde ich jedoch niemals wählen.«
Ilana war überrascht, in Lin eine derartige Entschlossenheit zu finden, tat sie jedoch als Trotz ab. »Wenn Tojar es bestimmt,
musst du Braam wählen.«
»Engil wurde immer von den Königinnen beherrscht, nicht vom König! Gerade du solltest das wissen, Mutter. Immerhin hattest
du eine Schwester …«
»Akari ist tot, und die Zeiten haben sich geändert!«
»Nein«, widersprach Lin mit ungewohnt fester Stimme. »Niemand kann mich zwingen. Ich werde Degan für euch finden.«
Nonas klangvolle Stimme beendete den aufkommenden Streit zwischen Mutter und Tochter. »Warte noch etwas, Lin. Sala will es
so.«
|360| »Sala spricht zu dir?«, fragte Lin ungläubig und fühlte einen Stich im Herzen. Warum sprach die Göttin nicht zu ihr? Immerhin
war sie ihre Hohepriesterin.
Nona nickte leicht, blieb ihr jedoch eine Antwort schuldig. »Nur noch ein wenig Zeit muss verstreichen, dann sollst du gehen
und Degan suchen.«
»Das ist doch Unsinn«, fauchte Ilana. »Lin wird nirgendwo hingehen.«
Nona hob die Hand. »Wenn du Sala nicht vertraust, kannst du dich gleich Muruk vor die Füße werfen. Die Greifin war nicht vorgesehen
in Salas Prophezeiung, daher müssen wir warten. Degan sucht sie, deshalb ist er fortgegangen.«
»Nona, Lin ist meine Tochter! Sie ist keine Kriegerin, wie du es warst. Sie wird Engil nicht verlassen, um nach Degan zu suchen.
Es ist zu gefährlich.« Ilana funkelte zuerst Lin und dann Nona zornig an. Unmissverständlich stellte sie klar, dass sie in
diesem Falle weder auf Sala noch auf Nona hören würde, und so legte sich eisiges Schweigen über die drei Frauen, während sie
sich ansahen. Lin wurde den Gedanken nicht los, dass Nona wusste, was geschehen würde, während ihre Mutter nur die Gefahr
für ihre Tochter sah. Doch Lin war entschlossen zu handeln. Es wurde Zeit, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nahm.
Ein paar Tage würde sie warten. Sie hatte sich letztendlich dazu entschlossen, Nona zu vertrauen, denn sie schien die Einzige
zu sein, die sie nicht in die Arme von Braam treiben wollte.
|361| Xirias Aufstieg
Xiria ging neben Injamon durch die verwahrlosten Straßen Dunguns. Einst mochte Dungun eine mächtige Stadt gewesen sein, doch
nun waren die Dächer der Häuser teilweise abgedeckt, Steine waren aus den Mauern gefallen, und
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