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Blutseele

Blutseele

Titel: Blutseele Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Harrison
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zur Hölle soll das bedeuten? Aber sie konnte einfach keine Erklärung finden, und Lilly zwang sich, den Takt ihrer Schritte zu ändern. Es war ein Versuch, das Gedicht abzuschütteln.
    Doch bald schon verfiel sie wieder in ihren Rhythmus, während der Frieden des Waldes sie umhüllte. Ihre Wut wurde erstickt von den Erinnerungen an den Wald ihrer Kindheit: wie sie mit ihrer Mutter Pilze gesucht hatte; wie aufgeregt sie gewesen war, wenn sie die Waldlilien gefunden hatte, nach denen sie benannt war; die Faszination für die dunklen, moosgesäumten Teiche, die jederzeit unerwartet verschwinden konnten, weil ein Loch sich öffnete und das Wasser durch die Höhlen ablief, die unter den Hügeln verliefen. Der Wald war ihr Spielplatz gewesen, ein wenig beängstigend, aber doch sicher.
    Ein Schweifhuhn schoss fast direkt unter ihren Füßen her vor und kreischte auf der Flucht seine Angst heraus. Lilly stoppte mit einem Keuchen und konnte nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken. Sie wollte lachen, doch es gelang ihr nicht. Vor sich hörte sie leise fließendes Wasser. Und Gesang.
    Lilly runzelte die Stirn, als sie die Stimme ihrer Mutter erkannte. Sie beschleunigte ihre Schritte. Die Wut machte sie unvorsichtig, sodass sie sich fast den Knöchel verstaucht hätte, als sie von einem dicken Ast abrutschte. Der Bach warnte sie nicht mit fröhlichem Plätschern. Ohne Vorwarnung stand sie davor und wäre fast von der Böschung gefallen. Sie hielt an und blinzelte. Wenn der Wasserstand des Baches am Haus schon niedrig war, wirkte das Fließgewässer hier fast winzig. Es floss so wenig Wasser, dass die Spit zen von Felsen trockenlagen, die normalerweise ein fahren des Boot nicht berührt hätten. Die scharfen Kanten des Wasserlaufes wirkten wie offene Wunden, und das sonst so laute Rauschen des Baches war kaum hörbar. Fische von der Länge ihres Armes lagen mit pumpenden Kiemen in den tieferen Pfützen und kämpften in der Hoffnung auf Regen darum, einen weiteren Tag zu überleben.
    In der Mitte des Baches lag ein riesiger, von der Eiszeit dort abgelagerter Felsen. Das Wasser hatte vor ihm ein tiefes Loch in den Boden gegraben, aber rechts und links daneben lagen jetzt Steine mit trockenen Oberseiten. Von diesem riesigen Monolithen war ihre Mutter als Kind ins Wasser gesprungen. In diesem natürlichen Teich hatte sie bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag, als alles sich veränderte, nackt gebadet. Mitten auf dem Felsen wuchs ein Baum, der dort über die Jahrhunderte genug Erde gefunden hatte, um irgendwie zu überleben.
    »Ich weiß, dass du mich hören kannst, Penn. Ich habe dir genug Blut für eine Woche gegeben. Zeige dich!«, ertönte die Stimme ihrer Mutter, und Lilly riss den Blick nach rechts.
    Mit einem Stirnrunzeln löste sie sich vom Bach und wich Bäumen aus, die sich über das Bett beugten, als wollten sie es vor der Sonne verbergen. Langsam stieg der Boden an, die Erde wurde trockener, und die Bäume standen weiter auseinander, auch wenn sie irgendwie verkrüppelt wirkten. Mit wem sprach ihre Mutter? Den Eichhörnchen? Fast hoffte Lilly darauf. Denn wenn Emily einen Baum anschrie, würde Lilly sie in das Seniorenheim vor der Stadtgrenze einweisen lassen.
    »Mom«, flüsterte sie, während sie eine Anhöhe hinaufging, von der aus sie in ein kleines Tal blickte. Hier bestand der Boden aus zerbrochenen Felsen und lieferte keine Nahrung für etwas anderes als Gräser und Brombeersträucher. Nur in der Mitte rang eine Kiefer dem Tal so etwas wie Leben ab. Doch ihre breiten Äste waren tot oder im Sterben begriffen, während der Baum sie ausstreckte, als bettle er seine Nachbarn um Hilfe an. Dornige Beerenbüsche erzeugten eine fast undurchdringliche Barriere, doch ihre Mutter hatte das Dornengestrüpp irgendwie durchquert. Die alte Frau kniete auf dem Boden vor der Kiefer, den Sonnenhut schief auf dem Kopf und die Haare offen.
    Lilly runzelte die Stirn. Genervt trat sie vor, um einen Weg durch das Gestrüpp zu suchen. Sie holte Luft, um nach ihrer Mom zu schreien, dann verzog sie das Gesicht und wich zurück, als sie in ein vollständiges Spinnennetz lief. Hektisch wischte sie sich über das Gesicht.
    Mit einem Schauder hielt sie an und öffnete überrascht den Mund, als sie aufsah und feststellte, dass ihre Mutter nicht allein war. Dann kniff sie die Augen zusammen, trat einen Schritt vor und zerstörte dabei ein weiteres Spinnennetz. Die helle Sonne erschwerte das Sehen, aber da stand ein langgliedriger Junge mit in

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