Blutseele
die Hüften gestemmten Händen über ihrer Mutter. Die Sonne ließ sein schulterlanges, verwuscheltes Haar kupferrot leuchten.
Tausende Geschichten über Tausende Sommernächte huschten durch Lillys Kopf. Ihr Herz raste. Sie trat einen weiteren Schritt vor. Wut erfüllte sie, als ihre Mutter, die vor seinen Füßen kniete, anfing zu weinen. »Du!«, schrie sie, weil sie es einfach nicht glauben konnte. »Lass meine Mutter in Ruhe!«
Der Junge sah erstaunt auf, bevor ein teuflisches Lächeln sein Gesicht erhellte. »Deine Tochter kann mich sehen, Em. Wie entzückend«, sagte er. Das Geräusch seiner flüsternden Stimme ließ Lilly anhalten. Irgendetwas in ihr zitterte, während eine ältere Stimme in ihrem Hinterkopf eine Warnung schrie. Er war perfekt, doch so schön war nur der Tod. »Ich liebe dich nicht mehr«, verkündete er, während er sich über Lillys Mutter beugte. »Aber das wusstest du schon. Vielleicht deine Tochter? Oder deine … Enkelinnen?«
Lilly erwachte aus ihrer Erstarrung, als ihre Mutter auf die Beine sprang und schwankte wie ein Schiff auf hoher See. »Halte dich von meinen Mädchen fern!«, schrie sie. »Ich schwöre, dass ich jeden Baum auf dem Hügel zu Asche verbrennen werde, wenn du Meg nur noch ein einziges Mal etwas ins Ohr flüsterst! Halte dich von ihr fern, hörst du mich?«
Verzweifelt rannte Lilly am Rande des Dornengestrüpps entlang und suchte nach einem Zugang.
»Nein. Das werde ich nicht.« Der wunderschöne Junge berührte das Gesicht ihrer Mutter, und Lillys Herz brannte, als sie das gequälte Geräusch hörte, das Emily von sich gab. »Du warst so wunderschön, Em. Jetzt bist du vertrocknet und verwelkt. Die Schönheit ist verschwunden. Du bist zu nichts mehr zu gebrauchen.«
»Mom!«, rief Lilly, als ihre Mutter versuchte, den Jungen zu schlagen, der nur lachend nach hinten sprang.
»Geist im Mondlicht, Jäger am Tage; Band zertrennt vom Sonnenlicht!«, schrie ihre Mutter. Der Junge tänzelte vorwärts und küsste sie vergnügt auf die runzlige Wange.
»Blut ist bindend, Blut ist Reiz; Fleisch widersteht süßer Klinge nicht!«
»Der Baum hält mich nicht länger, Em«, sagte er und streckte die Arme aus, als wollte er in die abgebrochenen, nadellosen Äste klettern. »Der Stamm ist tot, und du kannst mich nicht an ihn binden. Ich bin frei. Und ich werde als Buße das Blut deines Blutes zu meinem machen.«
»Vom fremden Fleische löse den Geist; in erwecktes Holz das Wesen reist!«, rief Lillys Mutter. Der Junge ließ sich wieder auf den steinigen Boden fallen. Lilly beobachtete alles, während sich die dornigen Ranken in ihre Seite pressten und der Junge ihre Mutter abfällig ansah, bevor er den Arm hob und sie ins Gesicht schlug.
Lilly keuchte auf, als sie hörte, wie seine Hand die Wange der alten Frau traf. »Lass meine Mutter in Ruhe, du Hurensohn!«
»Oh, wäre ich das nur«, sagte der Junge. Ohne Nachzudenken drückte sich Lilly in die stachelbewehrten Ranken. Winzige Dornen drangen in ihr Fleisch, während die Äste sich zu verknoten schienen, um ihr den Zugang zu verweigern. Feuer brannte in hundert Wunden. Lilly schrie ungeduldig auf, während sie weiter vorwärtsstapfte, als wollte sie die Dornen unter ihren Füßen zertreten und einen Pfad erzwingen.
»Lass meine Mutter in Ruhe!«, rief sie wieder und machte einen Schritt vorwärts, nur um in eine Schlinge aus Ästen zu treten und zu fallen. Sie prallte hart auf den Boden und rang um Luft. Doch dann erstarrte sie, weil der Junge plötzlich direkt vor ihr stand, seine Füße auf Augenhöhe. Sie waren dunkelbraun, mit weißen Nägeln. Sie keuchte, als er vor ihr in die Hocke ging, um sie anzustarren. Bernsteinfarbene Augen mit goldenen Flecken darin zogen all ihre Aufmerksamkeit auf sich, und der Rest der Welt verschwand. Hinter ihm konnte sie ihre Mutter weinen hören.
»Du bist Lilly«, sagte der Junge, doch Lilly konnte nicht antworten. Seine Haare glitzerten in der Sonne wie gesponnenes Kupfer, und sie schnappte nach Luft, als er den Arm ausstreckte, um ihre Haare zu berühren.
»Hat deine Mutter dir je erzählt, dass wir deinen Namen zusammen ausgesucht haben? Zehn Jahre, bevor du überhaupt geboren wurdest. Es war meine Idee. Ich liebe die Waldblumen so sehr.«
Lilly zog einen Arm unter sich, um sich aufzurappeln. Dornen bohrten sich in ihre Haut, und sie sah vor Schmerz zischend nach unten. »Mom!«, rief sie, als sie endlich auf die Füße kam. Der Junge war verschwunden. »Mom, geht es dir
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