Blutseele
sonst wäre ich nicht hier. Dass ich an seiner Stelle erschien, bedeutet, dass er seinen Lohn erhalten hat und in Frieden ruht.«
Selbstsüchtig wie ich war, hatte ich gehofft, dass Dad mich so sehr vermisst hatte, dass er beschlossen hatte zu verweilen. Ich schnüffelte wieder und starrte auf die vorbei rauschenden Festtagsdekorationen. Ich war eine schlechte Tochter.
»Bitte weint nicht«, sagte Pierce, und ich zuckte zusammen, als er sich vorlehnte und meine Hand ergriff. »Ihr seid so bleich, dass es mir fast das Herz bricht, Mistress Hexe.«
»Ich wollte ihn nur sehen«, sagte ich und achtete darauf, tief zu sprechen, damit meine Stimme nicht brach.
Pierce’ Hände waren kalt. Von ihm ging keinerlei Wärme aus. Aber sein Griff war fest, und die Rauheit seiner Haut war vollkommen anders als meine weichen, dünnen Hände. Ich spürte ein kurzes Ziehen, als hätte ich eine Linie angezapft, und sah ihm in die Augen.
»Aber …«, sagte er, während sich seine leuchtenden Augen in meine bohrten. »Ihr seid eine erwachsene Frau. Aber so klein.«
Vor Überraschung hörte ich auf zu weinen. »Ich bin achtzehn«, verkündete ich beleidigt und entzog ihm meine Hand. »Wie lange warst du schon tot?«
»Achtzehn«, murmelte er. Mir wurde immer seltsamer zumute, als sich der kleine Mann zurücklehnte und Robbie verlegen ansah.
»Meine Entschuldigung«, erklärte er förmlich. »Ich wollte mich Eurer Vermählten gegenüber nicht ungebührlich verhalten.«
»Vermählten!«, keuchte Robbie, und ich gab ein unhöf liches Geräusch von mir und rutschte von meinem Bruder weg. Die Leute, die gerade erst eingestiegen waren, sahen erstaunt auf. »Sie ist nicht meine Freundin, sie ist meine Schwester.« Dann veränderte sich Robbies Miene. »Halte dich von meiner Schwester fern.«
Ein Lächeln zog an meinen Lippen. Ehrlich, Pierce war ein Geist und viel zu alt für mich, selbst wenn er noch leben würde. Er war schätzungsweise mindestens vierundzwanzig, wenn ich ihn mir so ansah. Alles an ihm.
Ich lief rot an, als ich mich an seinen kleinen Körper erinnerte, der ziemlich muskulös und schmal war, wie ein kleines Pferd, das an harte Arbeit gewöhnt ist. Ich hob den Blick und bemerkte verlegen, dass Pierce genauso rot war wie ich und sorgfältig darauf achtete, seinen Mantel geschlossen zu halten.
»Wenn Ihr das Jahr 1999 schreibt, bin ich vor ungefähr ein hundert und siebenundvierzig Jahren gestorben«, erklärte er dem Boden.
Armer Mann, dachte ich mitleidig. Jeder, den er kannte, war wahrscheinlich tot oder so alt, dass er sich nicht an ihn erinnern konnte. »Wie bist du gestorben?«, fragte ich neugierig.
Pierce sah mich durchdringend an. »Ich bin eine Hexe, wie Ihr auch«, flüsterte er, obwohl Robbie und ich uns in den letzten Minuten ständig lautstark das Wort »Zauber« um die Ohren gehauen hatten. Aber vor dem Wandel konnte es einen umbringen, Hexe genannt zu werden.
»Du wurdest gefangen?«, fragte ich und rutschte auf meinem Sitz nach vorne, als wir in eine glatte, steile Straße ein bogen. Seine geheimnisvolle Aura hatte mich gefesselt. »Vor dem Wandel? Was haben sie dir angetan?«
Pierce legte den Kopf schräg, um gefährlich zu wirken. »Ein grauenhafter Mord. Ich bin nicht gesonnen, es Euch zu erzählen, wenn Ihr von zartem Charakter seid, aber ich wurde in die Erde eingemauert, während mein Atem noch in mir war. Lebendig begraben unter einem Engelswächter, der jederzeit bereit war, mich niederzustrecken, sollte ich wieder erscheinen.«
»Du wurdest umgebracht!«, sagte ich und spürte einen Anflug von Angst.
Robbie lachte leise, und ich schlug ihm aufs Bein. »Halt die Klappe«, sagte ich, dann verzog ich das Gesicht, als ich Pierce’ fassungslosen Gesichtsausdruck sah. Wenn er seit hundertsiebenundvierzig Jahren tot war, hatte ich in seinen Augen wahrscheinlich gerade geflucht wie ein Droschkenkutscher.
»Tut mir leid«, sagte ich, dann versteifte ich mich, als der Bus anhielt. Weitere Leute stiegen ein, unter anderem auch eine wütende, unglückliche Frau mit einem weiteren Packen dieser Flugblätter. Sie sprach kurz mit dem Busfahrer, und er grummelte ein wenig, bevor er sie weiterwinkte und die Bremse löste. Dann lehnte er sich zurück und schloss die Augen, während die Frau ein eingeschweißtes Flugblatt auf den Boden des Ganges klebte und zwei weitere an die Decke.
»Nehmen Sie ein Flugblatt«, verlangte sie immer wieder, als sie langsam im Bus nach hinten ging. »Sarah ist seit
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