Blutseele
Liebe nannte, dann hatte sie sich ihr halbes Leben lang zur Hure gemacht.
Während sie Mias wissendes Lächeln anstarrte, stiegen Erinnerungen in ihr auf: Erinnerungen an Piscarys Berührung, sein Lob, daran, wie er alles von ihr genommen und gesagt hatte, dass es ein Beweis ihrer Ergebenheit und Liebe sei … und ihre beschämte Akzeptanz, weil sie Selbstwert darin gefunden hatte, alles zu sein, was er wollte. Es war so frisch, als wäre es letzte Nacht passiert, nicht schon vor fast zehn Jahren. Darauf waren Jahre der Schwelgerei gefolgt, während sie herausfand, dass sie mit wachsender Dominanz nach mehr und mehr Befriedigung lechzte und immer weniger fand. Es war ein grausamer Henkersknoten, der sie bettelnd zu Piscary laufen ließ, damit er ihr Selbstwert vermittelte. Und obwohl sie ihn niemals fand, hatte er ihr den Schmerz versüßt.
Und jetzt wollte diese Frau, die so einfach das Leid anderer aufsaugte wie sie atmete, dass sie die Zweiteilung, an der ihre geistige Gesundheit hing, als falsches Dilemma an erkannte. Dass sie Schönheit in ihrem Verlangen fand, indem sie es Liebe nannte?
»Das ist keine Liebe«, sagte sie gepresst.
»Warum widersetzt du dich dann Art?«, erwiderte Mia. Auf ihren Lippen lag der Ansatz eines Lächelns, und sie hatte die Augenbrauen spöttelnd hochgezogen. »Das gesamte Stockwerk stellt sich diese Frage. Du weißt, dass es mehr ist als ein beiläufiger Akt. Es ist ein Weg, deine Liebe zu zeigen, und es Art zu geben würde bedeuten, dass du ein halbseidenes Mädchen bist; nein – eine Hure. Ein dreckiges, perverses Flittchen, das sich für einen Moment fleischlicher Lust und beruflichen Aufstieg verkauft.«
Das kam ihren eigenen Gedanken so nah, dass Ivy die Zähne zusammenbiss. Sie war froh, dass die Bürotür geschlossen war. Sie fühlte, wie ihre Pupillen sich erweiterten, aber die Erinnerung an Mias gezügelten Hunger hielt sie auf ihrem Stuhl. Ihr war klar, dass Mia sie provozierte, Wut aus ihr herauskitzelte, um sie aufsaugen zu können. Das machten Banshees nun mal so. Dass sie dafür oft die Wahrheit einsetzten, machte es nur schlimmer. »Man kann Liebe nicht dadurch zeigen, dass man Blut nimmt«, sagte Ivy leise.
»Warum nicht?«
Warum nicht? Es klang so einfach. »Weil ich zu Blut nicht Nein sagen kann«, sagte Ivy bitter. »Ich brauche es. Ich lechze danach. Ich will den Drang befriedigen, verdammt noch mal.«
Mia lachte. »Du dummes, weinerliches Mädchen. Du willst den Drang befriedigen, weil er an dein Bedürfnis nach Liebe gekoppelt ist. Für mich ist es zu spät. Ich kann keine Schönheit in der Befriedigung meiner Bedürfnisse finden, weil jeder stirbt, der von einer Banshee geliebt wird. Du kannst es, und zu sehen, wie selbstsüchtig du bist, bringt mich dazu, dich ohrfeigen zu wollen. Du bist ein Feigling«, beschuldigte sie Ivy. »Zu verängstigt, um Schönheit in deinen Bedürfnissen zu finden, weil es bedeuten würde, zuzugeben, dass du unrecht hattest. Dass du dir für den größten Teil deines Lebens etwas vorgemacht hast, dir vorgelogen hast, dass es keine Bedeutung hat, um in deinen Lüsten schwelgen zu können. Du bist eine Hure, Ivy. Und du weißt es. Hör auf, dir vorzumachen, es wäre anders.«
Ivy fühlte, wie ihre Augen vor Wut vollkommen schwarz wurden. »Sie müssen gehen«, sagte sie, die Muskeln so angespannt, dass sie ihren gesamten Willen aufwenden musste, um die Banshee nicht zu schlagen.
Mia stand auf. Sie war lebendig und strahlte, ihr glattes Gesicht war wunderschön – ein anklagender Engel, hart und gefühllos. »Du kannst dich über dein Schicksal erheben«, spottete sie. »Du kannst sein, wer du sein willst. Dann hat Piscary dich eben verkorkst. Dann hat er dich eben gebrochen und als nachgiebige Blutquelle neu aufgebaut. Es ist an dir, es entweder zu akzeptieren oder zu leugnen.«
»Glauben Sie, ich bin gerne so?«, fragte Ivy und stand ebenfalls auf, als ihr Frust ihr nicht mehr erlaubte, still zu sitzen. »Dass es mir gefällt, dass jeder mit langen Zähnen sich an mir gütlich tun kann? Ich wurde dazu geboren – es gibt keinen Ausweg. Es ist zu spät! Zu viele Leute erwarten, dass ich bin, wie ich bin, zu viele Leute zwingen mich, so zu sein, wie sie mich haben wollen.« Die Wahrheit kam heraus, und das machte sie wütend.
Mias Lippen waren leicht geöffnet. Ihre Augen waren hinter der Sonnenbrille verborgen, und die goldenen Spitzen ihres schwarzen Haares fingen das Licht ein. »Das ist die Ausrede eines faulen,
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