Blutsgeschwister
auf dem Rückweg zur Gasse war und vorsichtig die Straße zur Claudine Street überquerte – ein Stück weiter unten, an der Ecke, die am weitesten von der Zerstörung entfernt lag –, sah sie Gabriel Turner. Er war ein großer, dünner Junge mit karamellfarbener Haut und langen, schwarzen Zöpfen, die sich mädchenhaft auf seinen Schultern kringelten. Fancy beachtete Jungs normalerweise nicht so, wie Kit es tat. Sie erinnerte sich nicht einmal an ihre Namen. Aber selbst sie wusste, wer Gabriel war. Sein Vater war Daddys letztes Opfer gewesen.
Gabriel stand in einer leeren Parklücke vor einem Musikgeschäft, das Instrumente verkaufte. Sein schwarzes Hemd hatte er sich wie einen Umhang um die nackten Schultern gehängt. Hinter ihm glänzte eine Reihe goldener Saxofone im blutbeschmierten Schaufenster. Fancy fragte sich, ob Gabriel das Blut auf die Scheibe geschmiert hatte, weil ein ähnlicher Streifen seine nackte Brust verzierte. Und weil er zu seinen Füßen einen abgetrennten menschlichen Kopf mit einem Stock vor sich herschubste.
»Du willst nicht, dass ich dich küsse, was?«
Fancy zögerte, weil sie dachte, er spräche mit ihr. Aber Gabriel starrte stirnrunzelnd auf den Kopf. Sie fuhr erschrocken zusammen, als er den Stock in ein Auge stieß – es gab einen unvergesslichen Schmatzlaut.
»Zu dumm«, sagte Gabriel. Mit dem Stock führte er den Kopf zu seinem Gesicht und sagte ihm ins Ohr: »Echte Monster essen einen von innen auf.«
Sie schob sich um das hellblaue Auto, das ihr im Weg war, um besser sehen zu können, wie Wahnsinn aussah, aber noch bevor sie nahe genug dran war, kam Gabriels älterer Bruder Ilan aus dem Geschäft. Er erstarrte, als er sah, was Gabriel in der Hand hielt, und dann schnappte er sich seinen Bruder und schlug ihm ins Gesicht. Fancy war überzeugt, Blutstropfen im hohen Bogen durch die Luft fliegen zu sehen, so fest schlug er ihn.
Gabriel taumelte rückwärts gegen das hellblaue Auto und hielt sich eine Hand über den Mund. »Wofür war das denn?«, rief er. Seine Stimme klang gedämpft.
Ilan trat gegen den Kopf, sodass dieser im hohen Bogen über die kaputte Straße flog. Dann drehte er sich wieder zu seinem Bruder um und starrte ihn wütend an. »Es ist schon wieder passiert!« Seine Stimme klang rau, als würde er den ganzen Tag nur herumbrüllen. Wie es aussah, war Gabriel derjenige, der es abkriegte.
Fancy bekam Gabriel nun gut zu Gesicht, aber sie sah keinen Wahnsinn, sondern nur Angst und Verwirrung in seinen Augen.
Und Schmerz, als Ilan ihn wieder schlug, diesmal aufs Ohr.
Ilan war um einiges dunkler als sein Bruder. Er hatte auch nichts jungenhaft Weiches, so wie Gabriel. Aber sie hatten beide dieselben hellbraunen Augen. Ohne diese Ähnlichkeit hätte Fancy nie geglaubt, dass die beiden verwandt waren. Kit würde sie nie so behandeln wie Ilan seinen Bruder. »Das muss aufhören, Gabe«, sagte er.
Gabriel stieß Ilan gegen die Brust. »Ich weiß nicht, wie ich damit aufhören soll! Du tust so, als gäb’s da einen Schalter, den ich ein- und ausschalten kann.« Gabriel krümmte sich zusammen und vergrub seinen Kopf in den Händen. Ein Kunde, der gerade mit einem Geigenkasten aus dem Geschäft kam, stolperte fast über ihn.
»Ich will so nicht sein«, murmelte Gabriel und rieb seinen Daumen an dem goldenen Kreuz, das um seinen Hals hing, als wäre es eine Hasenpfote, die ihm Glück bringen sollte. »Ich geb mir so viel Mühe, nicht so zu sein.«
»Dann gib dir eben mehr Mühe.« Ilan riss Gabriel hoch und schüttelte ihn. »Glaubst du, ich will mein ganzes Leben lang hinter dir herrennen? Dich decken?« Ilan ließ ihn los und sah die Straße rauf und runter, als würde er auf ein Taxi hoffen, das er herbeiwinken könnte, um damit wegzufahren, aber in Portero waren Taxis nicht gerade dicht gesät. Ilan wandte sich zu seinem Bruder und sah ihn düster an. »Ich hätte dich gleich an dem Tag, als Ma dich nach Hause gebracht hat, erwürgen sollen. Dann ginge es uns allen besser.«
Gabriel hielt bei Ilans Worten inne. Seine Faust schloss sich fest um das Kreuz, als wollte er es abreißen und Ilan ins Gesicht peitschen. Stattdessen ließ Gabriel das Kreuz los, nahm sein Hemd von den Schultern und zog es sich über seine blutige Brust.
Beide Brüder trugen enge Punkrock-Klamotten, aber sie sahen darin irgendwie seltsam aus – eher jämmerlich als rebellisch. Ilans Blick fiel auf Fancy, die ihn und seinen Bruder anstarrte, und sein Gesicht hellte sich mit einem Mal
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