Blutsgeschwister
Dunklen Park.
Zu ihrer Überraschung und Erleichterung entdeckte sie einen sonnenbeschienenen Pfad, dem sie schnell folgte. Im Gehen faltete sie das Stück Papier aus dem Plattenspieler auseinander. Es war leer, wie schon den ganzen Morgen. Sie konnte sich nicht erklären, warum …
Während Fancy darauf schaute, erschien ein pinkfarbener Punkt am unteren Rand, und gleichzeitig zeigte sich am obersten Rand ein dickes, schwarzes X. Der Punkt bewegte sich im Schneckentempo auf das X zu. Als Fancy stehen blieb, hielt auch der Punkt an. Als Fancy rückwärtsging, verschwand der Punkt. Aber als sie weiterging, tauchte der Punkt wieder auf.
Jetzt, da sie sicher war, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand, beeilte sich Fancy.
Auch wenn der Weg auf der Karte eine perfekte gerade Linie war – Fancys Weg war es nicht. Ganz egal, welche Schlenker sie machte, der Punkt bewegte sich auf der Karte geradeaus. Wenn sie an einer Gabelung falsch abbog oder in die falsche Richtung ging, verschwand der Punkt. Fancy verfiel dann jedes Mal in Panik, aber sie fand immer wieder die richtige Richtung.
Der Dunkle Park wirkte auf den ersten Blick ganz normal, ähnlich den Wäldern, die ihr Haus umgaben. Aber je tiefer sie hineinging, desto seltsamer wurde er. Die Blätter schienen nach ihr zu greifen und ihr über Arme und Haar zu streichen. Fancy redete sich ein, den Wind zu spüren, obwohl es völlig windstill war.
An einer Stelle kam Fancy an einem riesigen Spinnennetz etwas abseits des Pfads vorbei. Große Knochen hingen darin. Tierknochen, dachte Fancy, auch wenn die Teile des Brustkorbs und die Oberschenkelknochen verdächtig menschlich aussahen. Nur ein paar alte Tierknochen in einem Netz, das schon vor langer, langer Zeit verlassen worden war.
»Hey!«
Fancy schrie auf und rannte weiter.
»Hey!«
Die Stimme war menschlich. Mortmaine?
Fancy wurde langsamer und sah sich um. Sie war erschrocken darüber, nach einer gefühlten Ewigkeit eine menschliche Stimme zu hören. Aber auf dem Pfad schien niemand zu sein.
»Hey!«
Sie spähte durch die dunklen Bäume zu ihrer Linken, und da sah sie es.
Fancy wusste sofort, dass es nicht menschlich war, ganz egal, wie es klang. Es hatte einen Kopf, aber der Rest bestand aus einer Art gelblichem Gelee. Die Nase, die es sich gegeben hatte, rutschte immer wieder in seinen Mund. Noch während sie es betrachtete, nahm das Gelee eine menschlich anmutende Form an und ging auf sie zu. »Hey!« Ein gelber Klumpen zog sich aus der Mitte seiner Brust und formte sich zu etwas, das wie eine Hand aussah. »Hey!«
Es griff nach ihr, und als die Geleehand in Kontakt mit den Sonnenstrahlen auf Fancys Pfad kam, fing sie Feuer. Das Ding fing an zu kreischen und verlor alles Menschliche, das es angenommen hatte. Es schrumpfte zu einem glibberigen Ball zusammen und verdrückte sich außer Sichtweite durch die dunklen Bäume.
»Klarer Fall von Sonnenstich«, sagte sich Fancy und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre Zähne klapperten. Dann sah sie auf die Karte. »Ich bin schon ewig in der Sonne. Deshalb hab ich das Ding gesehen.«
Sie hatte drei Viertel des Wegs zurückgelegt und war fast bei dem X. Es wäre albern, jetzt schreiend aus dem Wald zu rennen, wenn sie schon so weit gekommen war. Es kam nur vom Sonnenstich und von den Tierknochen und dem Wind. Wenn Fancy erst einmal den Schlüssel hatte, könnten sie und Kit tun, was immer sie wollten. Nichts hätte Konsequenzen, und dafür würde es Fancy mit allem aufnehmen.
Fancy drückte die Schultern durch und folgte weiter dem Pfad, und der Punkt auf der Karte verschwand.
Sie ging zurück, bis der Punkt wieder auftauchte. Dann suchte sie herum, fand aber keine anderen Pfade wie sonst, wenn der Punkt verschwunden war. Es gab nur den sonnigen Pfad und den dunklen Wald, der sie von allen Seiten bösartig einzuengen schien. Sie machte einen Schlenker nach rechts, und der Punkt verschwand. Also ging sie nach links … Und der Punkt blieb. Sie musste nach links gehen. Ab vom Pfad. In die Dunkelheit. Wo das schleimige Glibberding auf sie wartete.
Voller Entsetzen starrte Fancy in den Wald. Sie musste es tun. Für Kit würde sie es tun. Wenn sie jetzt aufgab, würde sie nie wieder den Mut haben zurückzukommen, nicht nach dem, was sie gesehen hatte. Sie atmete tief ein und stürzte sich so schnell zwischen die Bäume, dass sie das Gefühl hatte, ihre Füße würden mindestens fünf Meter lang nicht einmal den Boden berühren. Sobald sie es aber
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