Blutsgeschwister
hoffte insgeheim, Kit dort zu treffen, aber Kit war nirgends zu sehen. Fancy wühlte sich lustlos durch zerkratzte Schallplatten.
»Hey, Fancy.«
Es war die Ladeninhaberin, eine ältere Frau mit welligem Haar, einem Hippierock und Ringen an den Zehen. Kit wusste, wie sie hieß, Fancy aber nicht – sie hatte nicht aufgepasst. »Jemand hat ein paar Louis-Armstrong-LPs gespendet, falls dich das interessiert.«
Fancy ging in die Richtung, die ihr die Inhaberin wies.
»Stimmt es, dass du stumm geworden bist, nachdem Guthrie weggesperrt wurde?«
Die Ladenbesitzerin beobachtete sie, aber Fancy war es egal – sie hatte ein nettes Gesicht und einen schrägen Musikgeschmack, den Fancy immer zu schätzen gewusst hatte. Fancy warf ihr einen verachtenden Blick zu.
Die Ladenbesitzerin lachte. »Die Leute haben eine Menge Theorien, was? Bekommst du viele Drohbriefe?«
Fancy sah überrascht auf.
»Ich auch. Ich war zehn Jahre mit einem Kinderschänder verheiratet, und keiner glaubt mir, dass ich nicht wusste, dass er Kindern wehtut. Er begeht das Verbrechen, ich bekomme den ganzen Hass ab. Sie suchen sich immer die Falschen raus. Das ganze Mitleid verbraucht sich mit den Opfern, deshalb ist keins mehr für die unschuldigen Zuschauer übrig.«
»Ich bin nicht unschuldig«, sagte Fancy ohne nachzudenken. Sie war gerührt von dem schrecklichen Geständnis der Ladenbesitzerin. »Vielleicht hassen sie uns deshalb. Weil wir sie daran erinnern, dass Unschuld nur Einbildung ist, und dass wir, wenn wir an der Oberfläche kratzen, darunter dunkel und madig bis auf die Knochen sind. Wir sind Tiere, und wir sind schuldig – jeder von uns.«
Fancy nahm eine Platte mit zur Kasse – Louis Armstrongs Version von »On the Sunny Side of the Street« –, aber die Inhaberin wollte ihr Geld nicht nehmen.
»Geht aufs Haus. Holt dich deine Schwester nicht ab?« Sie sah aus der Ladentür, als würden draußen auf dem Gehweg lauter Fieslinge aufgereiht stehen und darauf warten, dass Fancy rauskam. »Du solltest nicht alleine herumlaufen.«
Fancy wünschte, dort wären Fieslinge. »Ist mir egal, wenn ich gefressen werde.«
»Kit wäre es nicht egal«, sagte die Ladenbesitzerin, als wüsste sie über Kits Gefühle Bescheid. »Habt ihr euch gestritten?«
Fancy hob die Schultern.
»Das ist okay, wenn man sich streitet, Liebes.« Sie griff nach einer Tüte für Fancys Platte. »Wenn man sich nicht streitet, dann findet man nie heraus, wie viel einem die Menschen bedeuten, die man liebt. Sie wird wieder zur Vernunft kommen. Und du kommst bald wieder, hm? Es ist schön, sich mit jemandem zu unterhalten, der um die Freuden völliger Verzweiflung weiß.«
Fancy dachte darüber nach. »Okay.«
Sie verließ den Laden und dachte darüber nach, wie einfach es gewesen war, fast schon normal, nach einer Begegnung mit jemandem wegzugehen, ohne denjenigen verletzen oder verstümmeln zu wollen.
Wie seltsam.
Als Fancy nach Hause kam, saß Kit am Klavier, spielte leise und sang in den Telefonhörer, den sie zwischen Kopf und Schulter geklemmt hatte. Fancy erkannte das Lied – sie hatten die Platte in der Kiste unter dem Plattenspieler. »I Wanna Be Loved by You« von Helen Kane.
Kit sang es kichernd ins Telefon, aber dann wurden die Worte bedeutungsvoll, ihre Stimme war plötzlich voller Sehnsucht. Als Kit jedoch sah, dass Fancy sie anstarrte, setzte sie sich auf und ließ das Telefon fast fallen. »Ähm, ich ruf dich später wieder an.«
Kit stand auf, steckte das Telefon in die Ladestation und folgte Fancy auf die Schlafveranda. »Hey, wo warst du?«
Fancy hob die Tüte mit der Schallplatte. »Was ist mit dir? Hast du was Aufregendes gefunden?«
»Nicht wirklich.«
»Wer war da am Telefon?«
Kit setzte sich an den Teetisch. »Niemand.«
»Du hast niemandem was vorgesungen?« Fancy legte ihren neuen Louis Armstrong auf den Plattenspieler und beschloss, die Helen-Kane-Platte später zu zerschlagen.
»Ich hab ihm nicht vor gesungen. Ich hab nur … gesungen.«
Kit konnte Fancy kaum in die Augen schauen. »Komm, wir lesen die Post.«
»Wenig dabei heute.« Fancy ging die Briefe durch und war enttäuscht. Es kamen immer noch Drohbriefe, obwohl es längst nicht mehr so viele waren wie noch vor einiger Zeit. Aber niemand hatte ihnen geschrieben und sie um Hilfe gebeten, jedenfalls nicht um die Sorte Hilfe, die die Schwestern anboten.
»Heißt nur, dass nicht so viele Leute jemanden tot sehen wollen. Zumindest nicht heute.«
»Es tut mir wirklich
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