Blutsgeschwister
auf dem Boden auszustrecken. »Dein Zimmer sieht aus, als hätte es ein durchgeknalltes Kindergartenkind eingerichtet. So siehst du übrigens aus. Hast du keine Kleider für große Mädchen?«
»Ich verstehe ja, dass du mich ärgern willst, weil ich versucht habe, dich und Gabriel umzubringen, oder weil mein Daddy deinen Daddy umgebracht hat, aber … meine Möbel? Meine Kleidung?«
»Ich kann nicht ändern, wer du bist, oder wer deine Leute sind, oder was sie getan haben. Aber Tische und Kleider, das kann ich ändern. Wenn ich vielleicht lange genug an dir dranbleibe, lässt du mich dich ausziehen.«
Fancy überraschte sich selbst mit einem lauten Lachen. Sie legte sofort die Hände über ihren Mund.
»Ich meine, und dir dann etwas Passenderes anziehen. Ich fühle mich wie ein schmieriger alter Sack, der dich in deinen Kleinmädchenklamotten anglotzt. Weißt du, was ich meine?«
Fancy konnte nicht glauben, dass sie eine so unangemessene Unterhaltung führte. »Madda sagt mir dauernd, ich soll andere Kleider anziehen. Ich will nur nicht, dass mich die Leute anstarren. Noch mehr, als sie es sowieso schon tun.«
»Die Leute werden dich trotz allem anstarren. Wenn man heiß ist, wird man immer angestarrt.«
»Magst du es, wenn du angestarrt wirst?«
»Du findest mich heiß? Nein, das ist gut«, versicherte er, als sie anfing zu stottern. »Endlich hab ich deine Aufmerksamkeit. Zu dumm, dass ich dafür fast sterben musste.«
»Es tut mir leid. Ich … mache nur gerade irgendwas durch.«
»Das sehe ich.« Er beugte sich vor, die Ellenbogen auf dem Tisch. »Was siehst du?«
»Warum hast du Gabriel die Treppe runtergestoßen?«
Er lehnte sich zurück. »Weil ich ihn liebe. Und weil Schmerz mit Liebe verwandt ist.«
Sie dachte an Kit. » Verwandte sind Schmerz.«
Ilan lachte. »Es geht immer um die Familie, oder? Was sonst reitet einen mehr in die Scheiße als die Familie?«
Sie berührte seine Hand. »Sag nicht ›Scheiße‹.«
Er drehte seine Hand unter ihrer um, und ihre Handflächen berührten sich. Fancy wusste nun, wie es sein musste, wenn man vom Blitz getroffen wurde. Sie hatte das Gefühl, ihre Haare stünden zu Berge.
»Fancy!«
Fancy zuckte beim Klang der Stimme ihrer Schwester zusammen.
»Lass uns raus!«
»Hast du das gehört?«, fragte Ilan und sah sich überall im Zimmer um.
»Das ist nur Kit«, sagte Fancy. »Sie bettelt um Hilfe, die sie nicht bekommen wird.«
»Fancy, ich meine es ernst. Lass uns raus. Gabe sagt, er muss arbeiten. Außerdem bekomm ich von der Glücklicher-Ort-Luft Kopfschmerzen.«
»Ja.« Das war Gabriel. »Und meine Nase fängt an zu bluten.«
»Gut.«
»War das Gabe?« Ilan setzte sich auf. »Wo zur Hölle sind sie?«
»In der Teekanne.«
Erschrocken starrte Ilan auf den Tisch, und auf dem Boden der pinkfarbenen Teekanne, die halb voll mit kaltem Kamillentee war, standen Kit und Gabriel. Sie waren auf der Plattform am glücklichen Ort, wo ihre Gräber gewesen waren, und starrten zu Fancy und Ilan herauf.
»Was zur Hölle?« Ilan stupste seinen Finger in die Teekanne. »Gabe?«
»Au!«
Ilan zog seinen Finger weg, aber sein Bruder lachte. »War nur Spaß.«
»Achte gar nicht auf sie«, sagte Fancy. »Sie werden nicht mehr so viel Spaß haben, wenn ich sie erst mal ins Klo gespült habe.«
»Mach das bitte nicht, Fancy«, sagte Ilan und setzte sich mit dem Rücken gegen das Fliegengitter. »Wenn ich nämlich heute noch eine schräge Sache sehe, explodiert mein Kopf.«
»Hör auf ihn, Fancy«, sagte Kit aus der Teekanne. »Ich weiß nicht, wie ich uns hier rausbekomme.«
Fancy wusste es auch nicht. Aber … Sie hatte sie alle an den glücklichen Ort gebracht, ohne das Kinetoskop zu benutzen, und hatte dabei wahrscheinlich alle Gesetze der Physik gebrochen. Dazu waren Gesetze schließlich da – um gebrochen zu werden.
Fancy konzentrierte sich auf Kit und Gabriel, deren Körper sich unter dem Tee kräuselten. Sie konzentrierte sich auf Kit, die so geduldig darauf wartete, gerettet zu werden, obwohl sie Fancy so ungeheuerlich betrogen hatte.
Fancy nahm die Teekanne und schüttete ihren Inhalt aus, und zusammen mit dem erwarteten Schwall Tee spülten auch Kit und Gabriel auf den Hartholzboden mit einem widerhallenden Aufschlag.
Ilan sah von ihnen weg und sagte zu Fancy: »Siehst du? Jetzt ist mein Schädel über den ganzen Raum verteilt. Bist du zufrieden?«
Fancy hätte nichts dagegen gehabt, Ilans Schädel zu sehen. Sie war überzeugt davon, dass er sehr
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