Blutskinder
Bevor er schließlich ging, nahm er eine Tarotkarte vom Tisch und steckte sie sich in die Tasche. Es war »die Gerechtigkeit«, die Karte der Wahrheit.
Louisa vergeudete keine Zeit. »Wenn wir uns nicht beeilen, hat das Institut für Genforschung an der Uni schon zu. Also zeig mir das Badezimmer, das Erin immer benutzt hat.«
Wenn sie ihn nicht am Arm mit sich gezogen hätte, wäre Robert eine Ewigkeit in der Diele stehen geblieben und hätte blicklos auf die Briefe gestarrt, die am Morgen für Erin gekommen waren. Empfänger unbekannt verzogen, dachte er, als er mit Louisa ins Bad hinaufging.
»Den meisten Kram hat sie mitgenommen«, sagte Robert. Louisa suchte Dusche und Waschbecken nach Spuren seiner Frau ab. Statt sie selbst ausfindig zu machen, waren sie nur hinter winzigen Spuren von ihr her. Konnte man in der DNS Unaufrichtigkeit erkennen?, dachte er. Lag die Neigung zum Lügen und Betrügen, zum Stehlen und Morden in den Genen?
»Verflixt!«, sagte Louisa und hielt ein einzelnes blondes Haar ins Licht. »Keine Wurzel. James hat gesagt, sie brauchen eine Wurzel, um Erbmaterial zu gewinnen. Wo hat Erin für gewöhnlich ihre Haarbürste aufbewahrt?«
Wo hat sie sie aufbewahrt, wiederholte Robert im Stillen. Früher mal – als ob sie tot wäre. »Hier.« Er führte Louisa zu Erins Toilettentisch, und sein Blick fiel auf einen Lippenstift, der neben dem Hocker auf dem Boden lag. Als er sich bückte, um ihn aufzuheben, bemerkte er, dass der kleine Abfalleimer unter dem Tisch umgekippt war. Der Inhalt lag verstreut auf dem Teppich. »Schau mal hier.« Behutsam hob Robert ein kleines Knäuel blonder Haare auf und reichte es Louisa. Es sah aus wie ein winziges zartes Nest. »Reicht das?«
»Einfach perfekt.« Mit triumphierendem Lächeln untersuchte sie die Haare, die Erin offensichtlich aus ihrer Bürste gezupft hatte, und zog einige davon heraus. »Ein paar haben bestimmt noch Wurzeln. Sicherheitshalber gebe ich James das ganze Knäuel.« Louisa warf Robert einen prüfenden Blick zu. »Bist du sicher, dass das Erins Haare sind?«
Robert lachte kurz und freudlos auf. »Ruby hat lange schwarze Haare.« Stirnrunzelnd dachte er daran, wie unterschiedlich die beiden waren. »Meine sind es bestimmt auch nicht, und eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Die Suche in Rubys Zimmer erbrachte keine geeignete Probe. Gerade wollte Louisa von der Küche aus ihren Bekannten im Genforschungsinstitut anrufen, da unterbrach Robert sie. »Ich habe ihr diese eklige Angewohnheit tausendmal verboten, aber jetzt bin ich froh darüber.« Mit einer angewiderten Grimasse zeigte er auf den Klumpen Kaugummi, der seitlich an einem halbvollen Glas Milch klebte. Das Glas stand neben den schmutzigen Tellern, die Erin und Ruby zuletzt benutzt hatten. »Ist Kaugummi geeignet?«
»Ja, aber bist du sicher, dass es wirklich von Ruby stammt?«
Robert lächelte. »Erin würde es nicht im Traum einfallen, so etwas in den Mund zu stecken. Ruby dagegen hatte immer ein Päckchen in der Tasche. Es ist ganz bestimmt ihres.«
Louisa nahm das Kaugummi mit einem Messer vom Glas und ließ es in einen Gefrierbeutel fallen. Dann griff sie nach der anderen Tüte mit den Haaren, sagte: »Die Autoschlüssel, bitte«, und schnappte sie sich, als Robert sie ihr hinhielt.
»Ich bin bald zurück. Bleib bis dahin ruhig hier sitzen und tu nichts Unüberlegtes.« Sie ging zur Tür, blieb jedoch noch einmal stehen, drehte sich zu Robert um und betrachtete sein betrübtes Gesicht, seine traurigen Augen. Sie kam zu ihm zurück und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich bin bald wieder da«, wiederholte sie flüsternd und drückte seinen Arm.
Doch Robert hatte keine Lust, allein in dem leeren Haus zu warten. Er suchte Erins Autoschlüssel und fuhr mit ihrem Wagen in den Sportclub. Nach einer wilden Solopartie Squash machte er sich eilig auf den Weg ins Büro.
Dort war alles still und friedlich. Tanya hatte die Computer ausgeschaltet und alle Schreibtischlampen gelöscht. Es war erst zehn nach sechs, doch die Akten der Mandanten mit all ihren Sorgen und Nöten ruhten bereits in den Schränken. Jedes Mal, wenn sie Feierabend machte, legte Tanya einen Finger an die Lippen und sagte: »Pst, Ruhe jetzt.«
Das Leder quietschte, als sich Robert in seinen Sessel fallen ließ. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag eine einsame Akte. Robert mochte es, wenn sein Büro aufgeräumt war. Dann wurde er nicht ständig daran erinnert, dass sich in Wahrheit die dringenden Fälle
Weitere Kostenlose Bücher