Blutskinder
sie schon vor Jahren reden sollen. Gleichzeitig wollte er ihr klarmachen, dass er jetzt Erin liebte, auch wenn sie im Augenblick meilenweit von ihm entfernt war und die Gefahr bestand, dass er sie für immer verloren hatte.
Aber Louisa war gegangen. Eine Sekunde lang hatte sie auf der Türschwelle gezögert, während schon das Taxi wartete. Fast hatte es den Anschein gehabt, als hätte sie sich mehr erhofft als den flüchtigen Abschiedskuss auf die Wange.
»Ich rufe dich an, sobald ich die Ergebnisse weiß. Das wird mindestens vierundzwanzig Stunden dauern, sagt James. Vielleicht sogar bis übermorgen.« Sie zögerte erneut, und der Blick, den sie Robert zuwarf, war wie eine Rettungsleine in Seenot. Doch dann drehte sie sich um und ging. Robert blickte ihr nach, bis das Taxi außer Sicht war, bevor er sich ins Haus zurückzog und noch einmal Erins und dann Rubys Handynummer wählte. Schließlich legte er sich aufs Bett und starrte an die Decke. Er stellte sich vor, die vielen kleinen Haarrisse im Stuck seien die Fehler, die er in seinem Leben begangen hatte. Dieses alte Haus mit seinen knarrenden Dielen und den klemmenden Schiebefenstern stand schon mehr als hundert Jahre und würde wahrscheinlich noch eine ganze Weile länger stehen.
Unter dem dünnen Laken wälzte sich Robert ruhelos hin und her. Obwohl er nackt war, schwitzte er noch immer, da sich die feuchte Hitze des Tages jetzt im Zimmer staute, woran auch das geöffnete Fenster nichts ändern konnte. Außerdem rasten seine Gedanken wie im Fieber. Wieder drehte er sich um und legte eine Hand auf Erins Kopfkissen. Er wusste, dass es vorbei war. Nach langem inneren Kampf wäre er bereit gewesen, ihr zu verzeihen, dass sie ihren Körper verkauft hatte. Wahrscheinlich hatte sie nur auf diese Art überleben können. Auch dass sie ihn angelogen hatte, wollte er vergeben. Doch was er nie und nimmer vergessen kon nte, war, dass sie Ruby entführt hatte.
Allmählich, nach und nach, fügte sich alles zu einer mathematischen Gleic hung zusammen, in der sich die Zahlen immer weiter multiplizierten und potenzierten, bis sie schwindelnde Höhen erreicht hatten. Jetzt war ihm klar, warum sich Mutter und Tochter kein bisschen ähnlich sahen. Warum Ruby oft so geistesabwesend wirkte. In seinem tiefsten Inneren wusste das Mädchen bestimmt, dass es nicht dort war, wo es hingehörte. Dass keine Blutsbande zwischen ihm und den Menschen bestanden, bei denen es lebte. Wenn sie erst die Laborergebnisse kannten, würde sich zeigen, wer Rubys richtige Mutter war. Für Robert stand fest, dass es nur Cheryl sein konnte.
Nun verstand er auch, warum Erin Ruby nicht erlauben wollte, auf Klassenfahrt nach Wien zu gehen. Wie sollte sie ohne Geburtsurkunde einen Pass bekommen? Wie hätte sie eine Geburtsurkunde für ein Kind beantragen können, das sie entführt hatte? Robert nahm an, dass der abgelaufene Pass, den er in Erins Kassette gefunden hatte, entweder falsch oder gestohlen war. Wenn er jetzt darüber nachdachte, fiel ihm ein, wie unscharf das kleine Passfoto gewesen war. Auch das Muttermal auf ihrer Wange, das Erin immer so sorgfältig überschminkte, fehlte natürlich. Er hätte gern gewusst, wer die junge Frau auf dem Bild in Wirklichkeit war.
Draußen hielt ein Wagen. Ein Lichtkegel wanderte durch die dünnen Gardinen, dann schlugen Autotüren zu, leise Stimmen, Schlüsselgeklimper. Schlaftrunken setzte sich Robert im Bett auf. Hoffentlich war das nicht wieder ein Hirngespinst – eine lachende Jenna, die wie eine frische Brise zurückgekehrt war, um sich abermals in sein Leben einzumischen. Er schaute auf die Digitaluhr. Zwölf nach zwei.
Als er zum Fenster tappte, sah er gerade noch ein schwarzes Taxi davonfahren. Er warf sich etwas über, trat hinaus auf den Treppenabsatz und spähte durch das Geländer hinunter in die schwach erleuchtete Diele. Ein Matchbeutel plumpste auf den Fliesenboden.
Da stand Ruby, allein, und schaute zu ihm hoch. Robert holte einmal tief Luft und hielt dann krampfhaft den Atem an. Er hatte das Gefühl, nie wieder ausatmen zu können.
28
O
hne jemandem Bescheid zu sagen, renne ich nach Hause. Ich lasse sogar meine Einnahmen liegen. Weil ich vor lauter Tränen nicht richtig sehen kann, stolpere ich über meinen albernen langen Rock, den ich nur anhabe, damit ich zigeunerhafter wirke, irgendwie übersinnlicher. Draußen ist es genauso stickig wie drinnen im Pub, nur ohne den Zigarettenqualm und den Bierdunst. Ich japse nach Luft, doch die
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