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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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stapelten. Er nahm die Akte zur Hand und las die Aufschrift. Wie er vermutet hatte, handelte es sich um den Bowman-Fall.
    Abermals sah er Mary Bowman vor sich, wie sie mit ihrem grün und blau geschlagenen Gesicht hier in seinem Büro gesessen hatte. Sie hatte behauptet, sie würde aufgeben, doch Robert wusste, dass das nicht stimmte. Wie konnte jemand kampflos auf seine Kinder verzichten? Und welches Recht hatte er, den Richter dazu zu bewegen, ihr die Kinder wegzunehmen? Sie waren nur Schachfiguren in einem schmutzigen Spiel, mit dem er nichts mehr zu tun haben wollte. Ihm dämmerte langsam, dass es für eine Mutter manchmal Situationen geben konnte, die ihr ausweglos erschienen.
    Robert ging hinüber in Dens Büro und goss sich einen Drink ein. Er schaute sich im Zimmer seines Seniorpartners um: Die echten Gemälde, die antiken Möbel, die Regale mit den ledergebundenen Büchern – all das vermittelte nur die eine Botschaft: Ich bin reich und ich werde deinen Fall gewinnen. Den zog sich die wichtigen Mandanten an Land, von denen es allerdings nicht allzu viele gab, und ihm, Robert, blieb der Abschaum. Die Jed Bowmans dieser Welt.
    Am liebsten hätte er die Akte auf Dens Schreibtisch gelegt, versehen mit einem Zettel »Bitte übernehmen«. Doch wenn er das tat, würde Jed gewinnen. Den würde Marys Ansprüche abschmettern, und ihr Mann bekäme das Sorgerecht für die Kinder. Mary Bowman war als Mutter ungeeignet. Sie war medikamentenabhängig und hatte Ehebruch begangen. Außerdem hatte sie weder einen Job noch Durchhaltevermögen. Jed dagegen war immer die Stütze der Familie und der pflichtbewusste Beschützer seiner Sprösslinge gewesen. Er hatte mittlerweile einen Job, besaß einen starken Willen und würde nicht eher ruhen, bis seine Frau in der Gosse lag. Jed Bowman war von Rachsucht getrieben.
    Robert nahm einen roten Marker und kritzelte »Fall niedergelegt« quer über den Aktendeckel. An diesem Mann würden sich Mason & Knight nicht mehr die Finger schmutzig machen. Und was Mary betraf, so würde er dafür sorgen, dass sie den besten Anwalt in ganz London bekam.
    Während er sich in seinem Sessel zurücklehnte und die Beine auf den Schreibtisch legte, dachte Robert darüber nach, was Erin wohl dazu get rieben haben mochte, die kleine Ruby aus Cheryls Wagen zu entführen. Schon hundertmal hatte er den Zeitungsartikel gelesen. Die Mutter des Kindes war nur ganz kurz im Supermarkt gewesen. Wie sich Cheryl wohl gefühlt hatte, als sie merkte, dass ihr Baby weg war? Er musste an ihre Augen denken und an die Art, wie sie sich über seine geöffnete Hand gebeugt hatte.
    Ob Erin Cheryl wohl um Entschuldigung bitten würde?
    Nachdem er eine Stunde so dagesessen und gegrübelt hatte, nahm Robert den Telefonhörer zur Hand. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Erin ihre Tat bereute. Wieso auch? Wie konnte jemand bereuen, dreizehn Jahre lang ein Kind aufgezogen zu haben? Er wählte die Nummer, die er im Internet gefunden hatte, und fragte sich gleichzeitig, ob Detective Inspector George Lumley wohl noch im Dienst war. Vielleicht war er ja schon pensioniert oder weggezogen oder gestorben.
    Er ließ es zweimal klingeln, dann legte er auf. Er brachte es einfach nicht fertig. Vor seinem geistigen Auge sah er, wie man Erin vor Rubys Augen verhaftete. Er versuchte, sich Rubys neues Leben mit Cheryl vorzustellen, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen.
    Cheryl wusste nicht, dass Ruby samstagmorgens gern Coco Pops vor dem Fernseher aß. Dass sie ihre Hausaufgaben am liebsten bis zur letzten Minute aufschob, wenn man nicht hinterher war. Was würde Cheryl machen, wenn Ruby Albträume bekam oder nach Erin weinte?
    Merkwürdigerweise glaubte Robert, dass er am besten geeignet war, Ruby den nötigen Halt im Leben zu geben, doch vor Gericht zählten seine Ansprüche wenig. Noch dreimal nahm er den Hörer ab, ohne zu telefonieren. Dann verließ er das Büro und fuhr nach Hause.

    Robert konnte nicht schlafen. Louisa war wieder in ihrem Hotel. Von unterwegs hatte sie chinesisches Essen und eine Flasche Wein mitgebracht, und Robert hatte im Stillen gehofft, dass sie nach dem Essen dableiben und in seinem Gästezimmer übernachten würde. Er war im Augenblick nicht gern allein, und außerdem wäre es eine gute Gelegenheit für eine offene Aussprache gewesen, bevor sich der innere Druck, der sich in ihm aufgebaut hatte, unkontrolliert Bahn brach. Er hätte ihr gern gesagt, was er einmal für sie empfunden hatte. Darüber hätten

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