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Blutskinder

Blutskinder

Titel: Blutskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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würden und lachen, tanzen, singen, essen und trinken, bis das neue Jahr beginnt. Meine Cousins würden lärmend herumtoben, den Erwachsenen Streiche spielen und heimlich ein bisschen Alkohol trinken. Als mir klar wurde, dass ich überhaupt nicht eingeladen war, schlug ich schnell die Augen nieder, weil ich die Genugtuung in Mutters Gesicht nicht sehen wollte, ihre verkniffenen Lippen und den hämischen Blick ihrer trüben, wässrigen Augen.
    Mutter kam es gar nicht in den Sinn, dass ich mich viel zu sehr schämte, um sie begleiten zu wollen. Außerdem hatte ich viel zu viel Angst. Mit ausdruckslosem, abgewandten Gesicht stand ich da, um nicht den Anschein zu erwecken, als wäre ich enttäuscht. Da fiel mir etwas Schreckliches ein.
    Was wäre, wenn er herkommen und nach mir suchen würde?
    In den frühen Morgenstunden werden meine Eltern Hand in Hand nach Hause gehen, mit frischen, kühlen Wangen, ein bisschen beschwipst, und sich wieder jung fühlen und aufgeregt und wie von innen gewärmt. Die ganze Wystrach-Familie, meine Onkel und ihre Frauen und Schwestern, Cousins, Tanten, Mütter und meine babka begrüßen das neue Jahr auf ihre Art und Weise – unter den wachsamen Augen meiner Mutter und ihrer Schwägerin, meiner Tante Anna. Es ist die einzige Nacht des Jahres, in der sich alle mal ein bisschen gehen lassen.
    Ich krümme mich vor Schmerz zusammen und lasse mich aufs Bett fallen. Es tut so weh! Ich habe Bauchkrämpfe. Vielleicht war das Essen schlecht, oder ich habe zu wenig gegessen. Ich presse mein Gesicht ins Kissen und beiße die Zähne zusammen, und mit einem Mal vergeht der Schmerz so schnell, wie er gekommen ist. Zitternd stehe ich wieder auf. Mir läuft noch mehr Pipi über die Beine. Also werfe ich mir nur den Morgenmantel über und lege mich erneut ins Bett. Am Morgen wird alles ganz anders aussehen. Das hat Mutter immer zu mir gesagt, als sie mich noch mochte. Ich schlafe ein.
    Ich träume vom Weihnachtstag, als sie mir mehr als sonst zu essen gegeben und mir einen Knallbonbon aufs Tablett gelegt haben. Mit wem sollte ich ihn denn knallen lassen? In meinem Traum verwandelte sich der Knallbonbon in ein langes Tranchiermesser. Und als sie kamen, um das Tablett zu holen, stieß ich es ihnen in den Bauch. Weil das Knallbonbonmesser so scharf war, drang es ganz leicht in ihr Fleisch. Auf einmal ist der Schmerz in meinem Bauch wieder da. Ich bäume mich auf und schreie. Mit beiden Händen umklammere ich die Eisenstangen am Kopfteil meines Bettes, so fest, dass meine Knöchel ganz weiß werden. Ich schreie abermals. Der Schrei kommt von so tief unten, dass ich gar nicht glauben kann, dass ich es bin, die da schreit.
    Als ich aufzustehen versuche, sinke ich zu Boden und schlage mir den Kopf an. Ich spüre es kaum. Doch den Schmerz, der meinen Leib umklammert hält und an meinem Rückgrat auf- und niederfährt, den kann ich kaum noch ertragen. In den kurzen Pausen zwischen den Krampfanfällen dämmert mir, dass mein Baby jetzt kommt. Wo ist Mutter? Immer wenn ich zwischen den Schmerzen genug Luft bekomme, rufe ich nach ihr.
    Ich ziehe mein Kissen vom Bett und döse ein wenig auf dem Fußboden. Unter dem Bett entdecke ich einige alte Spielsachen – die Puppe Patricia, ein schmuddeliges rosa Kaninchen, einen Stapel Enid-Blyton-Bücher und das Brettspiel »Schlangen und Leitern«, das er mir vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt hat. Es sollte mich an unsere Spielchen erinnern, hat er gesagt. Er hatte die Schachtel in Silberfolie eingewickelt und die Schleife von einer Pralinenschachtel darumgebunden. Und dann sagte er, ich solle es einfach vergessen. Was? Dass er mir das Spiel geschenkt hat? Nein, das andere, sagte er und lachte mich aus.
    Ich ziehe die Knie an den Bauch, aber das hilft auch nichts. Mein Gesicht verzerrt sich, weil eine neue Welle von Schmerz durch meinen Leib rast.
    »Mutter …!«
    Irgendwie schaffe ich es, auf die Beine zu kommen. Ich beuge mich vornüber, stütze mich mit den Armen auf dem Bett ab und schwanke bei jedem neuen Schmerz hin und her.
    Ich verdrehe die Augen und keuche und japse, bis mir ganz schwindlig ist. Dann wird mir schlecht. Ich erbreche wässrige Flüssigkeit auf die Tagesdecke. Ich kann nicht länger stehen und falle auf die Knie.
    »Helft mir doch! Mutter …«
    Dann schlafe ich wieder ein, den Kopf auf den Bodendielen, meinen gewölbten Bauch zwischen den Knien. Ich träume von ihm, und als die nächste Schmerzwelle mich weckt, bin ich schweißgebadet. Ich

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