Blutskinder
Rockband.« Mit lautem Geschlürfe saugte Ruby die letzten Reste aus ihrem hohen Glas. »Art hat ein Stipendium, weil er wirklich klug ist. Sein Dad könnte sich Greywood sonst nicht leisten.«
Robert bemerkte, dass sich Rubys Wangen röteten. Wie schön für sie, dachte er. Wie wunderbar. Dass jemand Ruby mochte, freute ihn so sehr, dass er sich alle väterlichen Ermahnungen verkniff. Er machte weder eine warnende Bemerkung über zu langes Wegbleiben noch über Küssen oder Schlimmeres. Außerdem konnte ja Erin mit ihrer Tochter über Jungs und Dates reden und ihr die notwendigen Ratschläge mit auf den Weg geben. Also ermunterte er Ruby nur, ihm mehr über Art zu erzählen.
»Art – das ist ein seltsamer Name. Woher stammt der Junge?«
»Der Name ist nicht seltsam. Er hat mir gesagt, es ist Gälisch und bedeutet Stein.« Das Sonnenlicht verlor sich in Rubys unergründlichen Augen und ließ ihr langes, dunkel kastanienbraunes Haar glänzen. Mit einer angefeuchteten Fingerspitze las sie die Kuchenkrümel von ihrem Teller auf und ließ sie auf den Gehsteig fallen. Sofort kamen einige Tauben herbeigehüpft und begannen, sich um die Krumen zu balgen.
Als es immer mehr Vögel wurden, verscheuchte Robert sie mit der Spitze seines Schuhs. Dann tupfte er sich die Stirn mit einer Papierserviette ab. Seine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Er spannte den Sonnenschirm über ihrem Tisch auf.
»Aus welchem Teil von London kommt er denn?«
»Er stammt eigentlich aus Wales.«
»Oh, wie schön. Von der Küste oder aus dem Landesinneren?« Robert war kurz davor, das Thema »Art« fallenzulassen, da Ruby nur wenig mitteilsam schien.
»Seine Familie waren fahrende Leute. Aber sie sind sesshaft geworden, als Art das Musikstipendium bekam. Sein Dad ist davon überzeugt, dass Art mal berühmt wird.«
Als Robert sich erneut den Schweiß von der Stirn wischen wollte, stieß er an seinen Teller mit der Kuchengabel. Beides fiel klirrend zu Boden, worauf der ganze Schwarm Tauben, der zwischen den Tischen herumpickte, erschreckt aufflatterte. Robert wich das Blut aus dem Kopf, und ihm wurde übel. Alles erschien ihm plötzlich so unwirklich, selbst die Stimme, die in seinem Kopf dröhnte: fahrendes Volk, Hippies, Zigeuner – alles ganz wunderbar, überhaupt kein Problem.
»Fahrende Leute, sagst du?« Robert bemühte sich um einen gelassenen Ton.
»Ja, so richtig mit Wohnwagen und Anhängern. Aber die haben sie in Wales gelassen, solange Art hier zur Schule geht. Jetzt wohnen sie in einem besetzten Haus.«
»Was?« Roberts Mund war wie ausgetrocknet. Er brauchte unbedingt ein Glas eiskaltes Wasser.
»Art sagt, es ist wirklich toll. Sie haben sogar Strom und alles. Er hat mich zur Sonnwendfeier eingeladen. Da geben seine Leute eine Party.«
»So, eine Party.« Robert winkte der Kellnerin und zahlte. Dann machte er sich mit Ruby auf den Heimweg. Ihrem Geplapper über Art hörte er nur noch mit halbem Ohr zu. Er hatte schon mehr als genug erfahren.
Erin ging ihm aus dem Weg. Die einzigen Zeichen für ihre Anwesenheit waren ihr metallic-blauer Mazda vor dem Haus und ein Bund orangefarbener Gerbera, die auf dem Tisch im Flur lagen. Als Robert hörte, wie die Haustür zufiel, hatte er ihr vom Wohnzimmer aus einen Gruß zugerufen, der aber vielleicht in den Tönen von Rubys neuester Komposition untergegangen war.
Er drückte die Esszimmertür zu, um die Klaviermusik ein wenig zu dämpfen, und stieg müde die Treppe hinauf. Aus dem Bad hörte er Wasser in die Wanne rauschen, und auf dem Fußboden im Schlafzimmer lag ein Häufchen abgelegter Kleider, die Erins Duft verströmten. Robert beschloss, seine Frau nicht beim Baden zu stören, und stieg noch eine Treppe höher zu seinem Arbeitszimmer. Nach wie vor war die Luft hier oben heiß und abgestanden. Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen und warf einen Blick in Erins Büro. Sie war schon oben gewesen und hatte ihre Aktentasche neben den Schreibtisch gestellt. Außerdem hatte sie den Computer eingeschaltet, weil sie nach dem Essen offenbar noch arbeiten wollte. Hoffentlich hatte sie nichts gemerkt. Nur gut, dass er daran gedacht hatte, das Computerkabel wieder in die Steckdose zu stecken.
Robert seufzte, als ihm auffiel, wie lange es her war, dass sie einen unbeschwerten Abend zusammen verbracht hatten – ohne Sorgen wegen Terminen oder Unterlagen oder Rubys Schulproblemen. Sie waren erst ein paar Monate verheiratet, doch ihr Leben schien nur noch aus Routine und
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