Blutspur des Todes
alles wie ein Traum vor, wie ein Albtraum. Sie starrte auf den Blutstropfen auf dem gelben Kragen des Farmers, und ihr Magen wollte rebellieren. Sie bemühte sich, die Erinnerung an die schmuddelige Küche ihrer Kindheit zu verscheuchen. Überall war Blut gewesen, an den Wänden und auf dem Linoleum, wo die Kakerlaken kurvige rote Spuren hinter sich her gezogen hatten.
»Die Schlüssel!«
Melanie setzte sich wie in Trance in Bewegung. Ja, sie konnte das, Schritt für Schritt. Sie würden ihn fesseln und die Schlüssel nehmen. Sie würde es überstehen. Sie hatte es schon einmal überstanden. Sie musste sich nur konzentrieren. Und dann würde sie diese friedliche gemütliche Küche verlassen und wieder in ihren Albtraum zurückkehren.
42. Kapitel
11.12 Uhr
Andrew beobachtete Charlie im Rückspiegel. Der Junge wirkte auf ihn wie ein kleiner Welpe, der auf die Rückkehr seines Herrchens lauerte. Die Waffe lag auf dem Sitz neben seinem Schenkel. Charlie hatte die flache Hand daneben gelegt, als scheue er sich, die Waffe anzufassen. Ein Blick in seine Augen zeigte Andrew jedoch, dass er nicht eine Sekunde zögern würde, sie zu benutzen, falls es notwendig wurde.
Andrew versuchte sich ein Bild von ihm zu machen und entwarf eine Charakterstudie wie für eine seiner Romanfiguren. Charlie hatte eine gewisse Gerissenheit, schien aber ansonsten nicht besonders klug zu sein. Zugleich ging etwas Unschuldiges, fast Kindliches von ihm aus, das mit dieser Gerissenheit nicht im Einklang stand. Zuerst hatte er das für eine Masche gehalten, für eine Rolle, die er spielte, um seine Umwelt zu manipulieren. Er sah auf eine etwas verruchte Weise gut aus, und sein offenes, naives Gesicht mit diesem schelmisch schiefen Grinsen ließ Andrew ahnen, dass ihm jedes Unrechtsbewusstsein für das fehlte, was hier ablief.
Er hatte fast den Eindruck, als hielte er das alles für ein Spiel.
Oder er tat nur so.
Charlie merkte, dass er beobachtet wurde, und sah auf. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, doch Charlie sah sofort wieder weg.
»Bist du schon lange mit Jared befreundet?« fragte Andrew, als wäre nun die Zeit gekommen, um höfliche Konversation zu treiben.
»Befreundet?« Charlie zog eine Miene, als erfordere diese Frage gründliches Nachdenken. »Jared ist mein Onkel.«
Das war also die Verbindung. Andrew hatte sich schon gefragt, ob Melanie Jareds Freundin war. Aber sie waren Geschwister.
Er blickte prüfend zur Haustür und zur Garage. Nichts. Von seinen Recherchen wusste er, dass es Kidnappern zunehmend schwerer fiel, ihren Opfern etwas anzutun, sobald sie sie als Menschen wahrnahmen. Er konnte nur hoffen, dass sich das auch in seinem Fall bewahrheiten würde. Immerhin hatte er Jared mit seiner Arbeit beeindruckt. Doch je länger die beiden nun wegblieben, desto unsicherer wurde Andrew, ob sein Plan aufgehen und Jared ihm gestatten würde, davonzufahren. Was immer Jared dort im Haus anstellte, das entschied auch sein Schicksal, dessen war er sicher.
»Er scheint ein netter Kerl zu sein. Schade, dass ich ihn nicht besser kenne«, sagte er und warf Charlie im Spiegel einen Blick zu.
»Jared ist cool.« Charlie nickte. »Und er weiß 'ne Menge«, fügte er hinzu.
»Aber manchmal ist er ein bisschen streng zu deiner Mom, oder?« Andrew testete, wie weit er gehen konnte. Wem galt die Loyalität des Jungen?
»Was meinen Sie?« Das Thema schien ihn allerdings nicht sonderlich zu interessieren, er starrte weiter aus dem Fenster.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Andrew wie beiläufig, als sei es nur eine Beobachtung. »Er schreit sie ziemlich oft an.«
»Ach das.« Charlie kicherte vor sich hin.
Andrew erwartete eine Erklärung, doch es kam keine.
Seine Beobachtung bedurfte nach Charlies Ansicht offenbar keines Kommentars.
Plötzlich öffnete sich das Garagentor, und ein blauer Chevy Impala tauchte auf. Andrew beobachtete, wie Charlie die Waffe nahm, sie jedoch wieder losließ, als er Jared am Steuer erkannte und Melanie auf dem Beifahrersitz. Jared fuhr den Chevy aus der Garage und hielt so dicht neben dem Saab an, dass Andrew seine Tür nicht öffnen konnte. Dann drehte er sein Fenster herunter und bedeutete Andrew, dasselbe zu tun.
»Charlie, bring unsere Sachen rüber«, rief er.
Der Junge sprang geradezu aus dem Wagen. Andrew ließ den Kofferraum aufspringen. Je schneller wir das hinter uns bringen, desto schneller bin ich frei, dachte er und merkte, wie Jared ihn anstarrte. Versuchte er abzuschätzen, ob er ihm trauen
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